Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl
hässlich zu Locken, die seiner Meinung nach zu weiblich wirkten. Waren sie zu lang, wirkten sie schnell geplättet, wenn er sie zu stylen versuchte. Aber grundsätzlich mochte er seine Haare, sie waren etwas Besonderes, unterschieden ihn von der breiten männlichen Masse.
Seine Augen, die Michaela immer liebevoll als „braun wie Kandiszucker“ beschrieben hatte, besaßen die Eigenschaft, mit dem richtigen Lichteinfall zu funkeln. Diesen Effekt hatte er früher gekonnt bei der Damenwelt eingesetzt. Auch Michaela war dem Glänzen seiner Augen erlegen. Es war sicher nicht zu seinem Nachteil, attraktiver zu sein als der Durchschnitt. Aber seit Michaela fort war, hatte er keine andere angesehen. Er war noch nicht so weit, denn keine Frau konnte momentan seiner Ex-Freundin das Wasser reichen. Hoffentlich war das eines Tages wieder anders, aber zu diesem Zeitpunkt war es Elias unmöglich, endgültig loszulassen.
Er betrachtete sich weiter im Spiegel. Seine Haut hatte einen bräunlich goldenen Ton, zu wenig, um südländisch zu wirken, aber auch nicht so hell wie die meisten Deutschen. Und dieser Punkt unterschied ihn eindeutig von seiner Mutter. Sie war sehr hellhäutig, die Bräune war ein Erbanteil seines Vaters.
Er sah noch einmal genau hin, versuchte sich an das Gesicht von Elias Faber zu erinnern. In Gedanken projizierte er es auf sein Spiegelbild und schrak zurück. Falls ihm seine Erinnerungen an das Äußere des Schauspielers keinen Streich spielten, schaute er ihm wirklich sehr ähnlich. Einmal abgesehen von dem welligen Haar und der Tatsache, dass die Haut und die Augen seines Vaters noch dunkler waren. Ja, seine Mutter hatte anscheinend nicht gelogen, als sie ihm den Namen seines Vaters genannt hatte.
„Elias, kommst du?“, hörte er Desiree leise krächzen.
„Endlich, sie ist aufgewacht“, schoss es ihm durch den Kopf.
Sofort eilte er zu seiner Mutter. Er half ihr, das Kissen zurechtzurücken und Desiree in eine angenehme Position zu bringen. Dann reichte er ihr ein Glas Wasser, an dem sie zaghaft nippte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie ein paar Schlucke getrunken hatte. Elias war dankbar, dass die Pflegerin das Füttern übernahm, denn seiner Mutter war es nicht möglich, schneller zu schlucken. Ihr Magen krampfte sich bei jeglicher Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme schmerzhaft zusammen. Das Thema künstliche Ernährung stand im Raum. Aber Elias wusste, dass Desirees Stolz und Würde es verhinderten, zu schnell zuzustimmen. Gott sei Dank konnte sie noch in einem normalen Tempo sprechen, einmal abgesehen davon, dass ihre Stimme nicht mehr glockenhell war wie angenehme Violinenmusik, sondern eher einer Geige glich, die kratzig und falsch von einem blutigen Anfänger gespielt wurde.
Nachdem Elias das Wasserglas abgestellt hatte, rückte er sich einen Polstersessel zurecht. Er kam nicht umhin zu denken, dass er in dieser Sitzgelegenheit wohl viele Stunden verbringen würde, ehe er sich endgültig von seiner Mutter verabschieden musste. Die Endgültigkeit, dass Desirees Tage unwiederbringlich gezählt waren, schnürte ihm die Kehle zu. „Sei nicht traurig, mein Junge. Wenn ich gehe, gehe ich heim zu unserem Vater im Himmel. Er wird dort sicher einen Platz für mich haben“, erklärte Desiree, die seine Gedanken erraten hatte.
Elias’ Stimme brach. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Die Menschen glauben schon so lange daran, nach ihrem Tod in den Himmel zu kommen. Was kann daran so verkehrt sein? Du weißt, dass ich nicht tiefgläubig bin. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass es Gott gibt. Die Geschichten über Jesus, seine Geburt, sein Leben und seine Auferstehung waren für mich immer tröstlich.“
„Aber beweisen kannst du es nicht!“, erwiderte Elias forsch.
„Nein, Glaube beginnt aber auch im Herzen. Du solltest nicht daran zweifeln, dass ich in den Himmel komme, wenn du mich in Frieden sterben lassen möchtest. Es gibt mir Kraft zu wissen, dass mein Leben nicht endgültig vorbei ist. Ich kann nur gewinnen durch meinen Glauben an Gott. Verstehst du?“
„Oh ... Entschuldigung! Ich weiß nicht, was ich mit meinem Einwand bezwecken wollte. Vergiss es einfach“, antwortete Elias halbherzig.
„Danke. Bist du bereit, damit ich endlich anfangen kann zu erzählen?“
„Ja ... nein, vielleicht sollte ich vorher noch etwas mit dir besprechen.“
Desiree verdrehte die Augen. „Was denn jetzt noch? So scharf scheinst du gar nicht darauf zu sein, von deinem Vater zu erfahren.“
Elias knurrte, so wie er es als Kind getan hatte, wenn ihm die Worte seiner Mutter unrecht oder falsch vorgekommen waren. Desiree musste schmunzeln.
„Darf ich deine Geschichte aufschreiben? Um sie später erneut lesen zu können.“
Elias’ Mutter kniff die Augen zusammen. „Oder um sie teuer zu verkaufen nach meinem Ableben ...“
„Äh ... nein. Daran hatte ich gar nicht gedacht“, erwiderte Elias ehrlich.
„War nur ein Spaß. Du kannst damit machen, was du willst. Ich habe meine Vergangenheit nur deinetwegen geheim gehalten. Aber du musst deinen Vater um Erlaubnis fragen, wenn du den Text wirklich einmal veröffentlichen möchtest. Kann ich mich auf dich verlassen?“
„Natürlich.“ Elias stand auf und holte aus der Garderobe seinen Laptop. Er schaltete ihn im Gehen ein. Wenige Sekunden später saß er wieder auf seinem Platz. „Wie soll ich deine Geschichte nennen?“
„Insel der verlorenen Träume“, kam es etwas zu schnell zurück.
Elias runzelte fragend die Stirn.
„Du wirst es am Ende verstehen“, erklärte ihm seine Mutter.
Viele Tage vergingen, ehe Elias alles aufgeschrieben hatte. Nach seiner Arbeit als Produktionsleiter in einer Firma, die Motorräder baute, kam er stets zu Desiree. Er legte sein gesamtes Privatleben auf Eis, was ihm nicht sonderlich schwerfiel, seitdem Michaela nicht mehr da war. Auch die Wochenenden verbrachte er bei seiner Mutter. Wenn sie vor Erschöpfung einschlief, Essenszeit war oder das Hygieneprogramm anstand, arbeitete Elias von seinem Laptop aus. Das Internet war überaus praktisch, wenn man nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte.
Als es Desiree schlechter ging und das Reden immer mühsamer wurde, nahm sich Elias frei, um den ganzen Tag bei ihr sein zu können. Stefan und seine Schwestern kamen nun auch täglich, um sie zu sehen. In dieser Zeit versuchte Elias, seinem Chef für die kurzfristige Freistellung zu danken, indem er trotzdem die wichtigsten Arbeiten anging, die keinen Aufschub duldeten.
Doch der ständige Besuch ermüdete Desiree noch mehr, sodass kaum Kraft übrig blieb, um weiterzuerzählen. Elias fürchtete schon, er würde nicht mehr alles erfahren. Der Arzt machte ihnen auch kaum mehr Hoffnung. Es würde bald so weit sein.
Sogar Pater Florian ließ es sich nicht nehmen, Desiree die Krankensalbung zu verabreichen. Sie vertraute dem Priester und es schenkte ihr Trost, dass er sie besuchte. Elias wusste nicht, was sie mit ihm besprach, aber es schien dringend zu sein. Nachdem Pater Florian gegangen war, hatte sich etwas in ihr gelöst. Sie wirkte friedlich, legte ihre letzte Kraft in die Geschichte für ihren Sohn.
Gerade mal zwei Tage bevor Desiree Benjamin dem Krebs erlag und ihren letzten Atemzug machte, tippte Elias das finale Schlusszeichen der Geschichte in seinen Laptop.
*
1992
Desirees Leben änderte sich an einem Montagmorgen im Mai. Genauer gesagt war es der vierzehnte im Jahr 1992. Desiree Benjamin war vierunddreißig Jahre alt und dieser Tag gab ihrem Leben eine unerwartete Wendung, die alles, was bis zu diesem Zeitpunkt wichtig gewesen war, gehörig auf den Kopf stellte.
Aber bevor die Ereignisse hier erklärt werden, müssen wir zurückschauen auf die Monate davor, um zu verstehen, wie das alles geschehen konnte.
Desiree stand vor dem Spiegel und begutachtete kritisch ihre Kleidung. Sie hatte nichts Besonderes an oder etwas Besonderes vor, für das sie schick sein musste. Es war eher eine Art Ritual, das jedes Mal mit einem unzufriedenen Seufzen endete. Ihr Hintern und ihre Oberschenkel füllten die Jeans aus. Das T-Shirt wölbte sich unschön