Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl
Deine Mutter war am Ende, die Kleinkinder brachten sie oft an den Rand der Verzweiflung. Sie stellte mir ein Ultimatum: Entweder stellte ich einen Mitarbeiter ein oder sie würde mit den Kindern verschwinden. Der Schock saß mir in den Knochen, schließlich machte ich all das für meine drei Liebsten. Aber ich lernte gerade noch rechtzeitig zu verstehen, was meine Frau meinte, rechnete alles durch und beschloss, den Schritt zu wagen. Peter war mein erster Mitarbeiter, im Laufe der Jahre folgten weitere fünf, wie du ja weißt. Ich war stolz, ich hatte es geschafft, unsere finanzielle Lage zu stabilisieren. Und konnte nun auch endlich Zeit mit meiner Familie verbringen und Desiree entlasten, indem ich mich mehr um die Kinder kümmerte.
Als deine Schwestern fünf Jahre alt waren, nutzte deine Mutter die wiedergewonnenen Freiräume und sagte mir klar und deutlich, dass sie jetzt an der Reihe sei. Verbissen hielt sie an ihren Wünschen für die Zukunft fest. Desiree begann, nebenbei zu studieren, um ihren Traum, Autorin von Filmdrehbüchern und Theaterstücken zu werden, zu verwirklichen. Sie hielt die Balance zwischen Familie und Studium besser als ich. Sie wurde zu einer guten Managerin und Organisatorin ihres Tagesablaufs. Innerlich ärgerte es mich trotzdem, dass sie die Zeit so sinnlos vergeudete. Ich ließ sie zwar gewähren, aber richtig überzeugt war ich nie. Ich war felsenfest der Meinung, sie renne einem Phantom nach. Und der Groll begann sich in mir anzustauen, immer öfter wurde ich ihr gegenüber unfair. So entfernte sich Desiree immer weiter von mir, die Kinder hielten uns zusammen. Sie waren bald unsere einzige Gemeinsamkeit.
Ich besann mich erst wieder meiner Liebe zu ihr, als sie mit fortschreitendem Studienerfolg sichtlich aufblühte. Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder, dass es so positiv verlief. Ich lernte, an sie zu glauben. Ich fing wieder an, sie zu küssen und sie in den Arm zu nehmen. Ich liebte sie wieder so wahnsinnig wie an dem Tag unserer Hochzeit. Ich redete mir ein, sie würde auch so fühlen. Aber die Distanz, die ich durch meinen unausgesprochenen Zorn und mangelnden Respekt ihr gegenüber erzeugt hatte, war in ihrem Herzen ungebrochen. Sie wollte mich mehr lieben, konnte es aber nicht. Sicher waren wir nach wie vor die besten Freunde, die sich treu zur Seite standen, aber wir waren streng genommen schon damals kein Ehepaar mehr. Sie stürzte sich so in ihre Arbeit, wie ich es in jungen Ehejahren getan hatte. So wurde dann der lang ersehnte erste Auftrag als Drehbuchautorin zum Fluch für unsere Beziehung. Der einzige Segen, der aus dem Desaster hervorging, bist du, mein Sohn.“
„Aber ich war doch schuld, dass ihr euch getrennt habt, auch wenn es erst Jahre später so weit war“, gab Elias enttäuscht zu bedenken.
Stefan legte seine Hand auf Elias’ Schulter. „So etwas darfst du nicht einmal denken. Ich bin stolz darauf, einen Sohn wie dich zu haben. Deinetwegen habe ich deinem leiblichen Vater verziehen, dass Desiree ihm die Leidenschaft schenkte, die sie mir gegenüber nie empfunden hat.“
„Aber wie konnte das passieren?“ Die alten Tränen der Wut stiegen in Elias auf.
„Tut mir leid, ich habe schon zu viel verraten. Deine Mutter möchte nicht, dass ich dir davon erzähle“, beschwichtigte Stefan ihn.
„Weißt du, wie beschissen es ist, wenn man nicht weiß, wo man herkommt? Warum könnt ihr mir die Geschichte nicht einfach erzählen? Warum ging dir Mama fremd? Warum war sie jahrelang verschwunden? Sie brannte durch mit ihm und ließ dich und meine Schwestern im Stich, nicht wahr?“, brüllte er Stefan aufgebracht an.
„Bitte, geh jetzt“, sagte Stefan gequält freundlich.
„Aber ich möchte doch nur die Wahrheit wissen“, protestierte Elias.
„Und die wirst du von mir nicht erfahren.“
Stefans letzter Satz klang endgültig. Elias wusste, dass er seine Meinung nicht ändern würde.
***
Elias rann der Schweiß über die Stirn. Er wischte sich mit dem Handrücken darüber, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Der Boden dampfte, weil die Morgensonne den Dauerregen der vergangenen Nacht auftrocknen ließ. Die warme, feuchte Luft verwandelte den Park in einen mystischen Ort. Zwischen den Bäumen stieg Nebel auf, der sich wie dicke Strähnen durch die Landschaft zog. Die Lichtstrahlen suchten sich ihren Weg dazwischen hindurch, was zu einem atemberaubenden, wunderschönen Naturschauspiel führte. Doch die Kombination aus Sonnenwärme und der hohen Luftfeuchtigkeit fühlte sich wie in einer Dampfsauna an, warum Elias das Lauftraining auch anstrengender vorkam als sonst. Aber er lief unbeirrt weiter, beobachtete dabei zwei Hunde, die sich zum Missfallen ihrer Besitzer um etwas rauften, das wie eine alte, vergammelte Schuhsohle aussah.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihn sein Tempo noch steigern. In einer halben Stunde sollte er frisch geduscht in einem Kaffeehaus zum Frühstück mit Stefan erscheinen. Er wollte noch einmal mit ihm sprechen an diesem Samstagmorgen. Elias hoffte, dass sein Stiefvater seine Meinung geändert hätte und ihm nun doch noch etwas erzählen wollte, das ihm weiterhalf. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass Stefan den Willen seiner Mutter bewusst umging.
Er bog in die letzte Straße zu seiner Wohnung ein. Ein paar Minuten verschnaufte er noch an die Hausmauer gelehnt, um die wichtigsten Muskeln zu dehnen. Dann begab er sich in seine Wohnung, um schnell zu duschen und ein frisches Gewand anzuziehen. Ein Blick in den Spiegel, etwas Stylingwachs in die Haare verteilt und schon war er wieder unterwegs, um Stefan zu sehen.
Dieser saß am Tisch und schaute gelangweilt auf seine Uhr.
„Bin ich zu spät?“, fragte Elias ihn, als er ankam.
„Oh, nein. Ich war nur viel zu früh da. Ich habe mir die Freiheit genommen, uns ein Frühstück für zwei Personen zu bestellen. Da ist von allem etwas dabei.“ Mit der Hand deutete Stefan auf den freien Stuhl, damit der Neuankömmling Platz nahm.
„Passt schon. Ich habe einen Bärenhunger und brauche dringend einen Kaffee“, sagte Elias, während er sich niedersetzte.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, brachte die Kellnerin zwei Tassen von der schwarzen, koffeinhaltigen Brühe, der Millionen von Menschen jeden Tag positiv zugetan waren. Es roch angenehm nach dem frisch aufgebrühten Kaffee. Elias und Stefan gossen etwas Milch hinein und setzten gleichzeitig die Tassen an ihre Lippen.
Stefan lachte auf. „Du hast ja doch einiges von mir.“
Damit war unbewusst der wunde Punkt angesprochen. Elias wusste nur zu gut, dass Stefan sein eigentlicher Vater war. Er war da gewesen, hatte ihn mit seiner Mutter großgezogen. Aber die Sehnsucht nach seinem leiblichen Vater brannte wie ein unkontrollierbares Buschfeuer in seinem Herzen. Doch niemand, der konnte, wollte es löschen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.
„Hast du es dir anders überlegt?“, fragte Elias.
Stefan schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte mich nur entschuldigen für meine unwirsche Art, wie ich dich abgespeist habe. Ich kann dir nichts über deinen Vater erzählen. Aber ich kann dir erzählen, wie es war, als deine Mutter zurückkehrte. Mit dir auf dem Arm.“
Enttäuscht nickte Elias. Er war den Tränen nahe. Doch er wollte sich keine Blöße geben. Gott sei Dank brachte die Kellnerin in diesem Moment das üppige Frühstück. So konnte er im Stillen um Fassung ringen, während sie die Platte mit Schinken, Käse, Butter, Aufstrichen und Gemüse vor ihnen platzierte. Dazu stellte sie noch einen Teller, auf dem Obst und Marmeladen in kleinen Schüsseln liebevoll angerichtet waren. Kurz verschwand sie, um mit Gebäck, Tellern und Besteck wieder zu erscheinen. Zu guter Letzt brachte sie noch Orangensaft und gekochte Eier und wünschte „Guten Appetit!“.
Das ließ sich Elias nicht zweimal sagen, das Lauftraining hatte ihn hungrig gemacht. Er drapierte Schinken und Käse auf einem halben Vollkornbrötchen, legte eine Gurkenscheibe und ein Stück Tomate obendrauf. Herzhaft biss er hinein.
Stefan beobachtete ihn stumm, schmierte Aufstrich auf eine halbe Semmel und beschloss, das Gespräch wieder aufzunehmen. „Desiree war zwei Jahre lang weg. Sie beschloss für dich, diese Zeit aus ihrem Leben zu streichen. Ich kann dir nur verraten, dass du neun Monate alt warst, als sie zurückkehrte.“
Elias zog eine Augenbraue hoch. Er fragte sich, ob ihm das schon mal irgendjemand erzählt hatte, dass er noch ein Baby gewesen war. Er konnte