Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl
es, wenn jemand über den Durst trinkt. Ich bin übrigens Sebastian“, stellte sich der Pfleger vor. Er wartete, bis das Thermometer fertig gemessen hatte, schrieb den Wert auf und hängte Elias an einen Tropf. „Gegen die Schmerzen“, erklärte Sebastian.
„Was habe ich eigentlich?“, versuchte Elias es erneut.
„Das hätte Ihnen eigentlich Frau Doktor Müller erklären sollen, aber wenn Sie mich nicht verpfeifen, verrate ich es Ihnen.“
Elias versuchte, mit dem Kopf zu nicken, kam aber nicht weit, ehe die Schmerzen erneut in seinen Rücken und Kopf einschossen. Laut stöhnte er auf.
„Sie haben in einer Bar Tarzan gespielt und sind mit dem Lampenschirm am Boden gelandet. Aber außer einer Gehirnerschütterung und zwei gebrochenen Rippen ist Ihnen nichts passiert. Das hätte ganz anders ausgehen können, wenn die Wirbelsäule beschädigt worden wäre, hätten Sie jetzt ganz andere Probleme.“
„Danke“, bemerkte Elias etwas beschämt über die Freundlichkeit des Pflegers.
„Ich gehe jetzt und schicke Ihren Besuch wieder herein.“
„Nochmals danke“, erwiderte Elias und sah zu, wie Sebastian den Raum verließ.
Einen Augenblick später stand Stefan schon wieder vor ihm. Er rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich nah zu Elias, als wolle er ein Gespräch im Vertrauen beginnen. Aber er schwieg. Seine grau melierten Haare machten ihn heute noch älter, als er wirklich war. Er hatte noch zwei Jahre, bis er sechzig Jahre alt wurde, schaute allerdings deutlich betagter aus. Oder waren es die Falten, die sich noch tiefer in die wettergegerbte Haut eingruben? Auf jeden Fall standen Stefan die Sorgen deutlich ins Gesicht geschrieben.
So durchbrach Elias die Stille: „Wo ist Michaela?“
Stefan runzelte die Stirn. „Wie bitte?“
„Wo ist Michaela? War sie schon hier? Macht sie sich große Sorgen um mich?“, wollte Elias wissen.
„Äh, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, druckste Stefan herum.
„Ihr ist doch nichts passiert, oder?“ Elias stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
„Nein, es geht ihr gut. Glaube ich zumindest, ich habe sie lange nicht gesehen“, gab Stefan zur Antwort.
„Wie soll ich das verstehen? Wir besuchen dich doch regelmäßig. Ah, ich weiß schon. Wegen unserer bevorstehenden Hochzeit hatten wir zu wenig Zeit, um zu dir zu kommen. Das tut mir leid, ehrlich!“
„Nein, Elias, das ist es nicht.“ Fürsorglich und vorsichtig griff Stefan nach seiner Hand. „Ihr, also Michaela und du, ihr seid seit drei Monaten kein Paar mehr“, erklärte er ruhig.
Elias wurde zuerst kreidebleich im Gesicht, dann lachte er laut los. „Dein Humor war schon immer etwas makaber.“
Doch Stefans Blick blieb todernst. „Du irrst dich. Ihr seid wirklich nicht mehr zusammen. Das war kein schlechter Scherz.“
„Aber wir wollten doch heiraten ... ich liebe sie“, klammerte sich Elias an den letzten Strohhalm der Hoffnung.
„Du hast es vergeigt, Elias. Und weil du das genau wusstest, hast du die letzten drei Monate jede Menge Alkohol in dich hineingeschüttet. Du hast dich regelmäßig ins Koma gesoffen. Es war abzusehen, dass du im Krankenhaus landest.“
Elias versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber die Tränen der Verzweiflung nicht zurückhalten. „Warum?“, brachte er gerade noch hervor.
„Michaela hat ihre Stelle als Zahntechnikerin aus heiterem Himmel gekündigt. Sie wollte nach Berlin, um dort das Studium der Zahnmedizin aufzunehmen. Sie wollte Zahnärztin werden.“
„Aber warum Berlin? Das kann sie doch hier in München genauso gut machen.“
„Das war genau deine Reaktion, du hast ihr vorgeworfen, nicht an dich und eure bevorstehende Ehe zu denken. Du hast ihr gesagt, sie solle sich gefälligst um eure zukünftigen Kinder kümmern und nicht den lächerlichen Wunschtraum verfolgen, Zahnärztin zu werden. Dein Argument war, dass sie keine Zeit haben würde für dich und eure Kinder mit so einem zeitintensiven Beruf.“
„Oh ... war ich wirklich so direkt?“ Elias sah beschämt auf seine Hände.
„Sie meinte, du hättest in manchen Punkten recht. Aber sie könnte sich auch vorstellen, keine Kinder zu haben. Und dann bist du explodiert. Du bist völlig ausgetickt. Du hast sie gegen die Garderobenwand geschleudert. Du hast sie angeschrien, sie solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Das hat sie dann auch getan. Sie ist zutiefst gekränkt nach Berlin gegangen.“
Elias schaute Stefan schockiert an. „Ich habe sie verletzt? Wie konnte ich das nur tun? Ihr gegenüber hatte ich doch meinen Zorn meistens relativ gut im Griff. Ja, sicher, ich wurde auch bei ihr sehr schnell wütend, aber wie konnte ich ihr bloß wehtun? Ich liebe sie doch!“
„Ich weiß, aber Michaela hat jetzt Angst vor dir. Sie will deine ständigen Entschuldigungsversuche nicht hören, geschweige denn annehmen. Das ist auch der Grund, warum du dich seit drei Monaten bis zur Besinnungslosigkeit betrinkst. Du leidest unter deinem unüberlegten Handeln. Ich mache mir große Sorgen um dich.“
Elias blickte ins Leere, ehe er sich einsichtig zeigte. „Es stimmt, ich habe es wirklich vergeigt. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich ihr wehgetan habe.“ Kaum hatte Elias es ausgesprochen, brach er in ein hemmungsloses Schluchzen aus.
„Wenn Sie zu Hause Hilfe in Anspruch nehmen, können Sie morgen nach Hause gehen. Lassen Sie aber das Komasaufen. Alkoholleichen wie Sie können wir nicht gebrauchen“, blaffte Frau Doktor Müller Elias an.
„Ich habe daraus gelernt, Ehrenwort!“, versprach er.
„Ja, große Sprüche klopfen könnt ihr alle. Mir würde es schon reichen, Sie hier nie wiedersehen zu müssen. Verstanden?“
„Ganz meinerseits“, wagte Elias, den schroffen Tonfall frech zu erwidern.
„Na, dann sind wir uns ja einig“, gab sie, das erste Mal neutral gesprochen, zurück, nicht freundlich, aber auch nicht verärgert.
Elias atmete durch, als die Ärztin endlich den Raum verließ. Bald würde er wieder in Freiheit sein und die einengende Atmosphäre des Krankenhauses verlassen. Innerlich machte sich ein überschwängliches Jubelgeschrei in ihm breit.
Das Läuten des Telefons riss ihn aus der erdachten Freudenfeier. Das Display zeigte eine ihm unbekannte Nummer an.
„Benjamin“, meldete sich Elias.
„Ja ... hallo“, kam es schüchtern zurück.
Danach folgte eine längere Pause.
„Wer spricht da bitte?“, durchbrach Elias die Stille.
„Michaela. Ich rufe dich von meinem neuen Mobiltelefon an. Du liegst im Krankenhaus, oder?“
Elias’ Herz hüpfte vor Freude. „Ja, aber ich darf schon wieder nach Hause. Schön, dass du anrufst.“
„Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut, dich so stehen gelassen zu haben. Vielleicht hätte ich dir doch zuhören sollen“, bemerkte sie etwas verlegen.
„Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich weiß nicht einmal selbst, warum ich dir so wehgetan habe. Ich weiß nur, dass es der größte Fehler in meinem Leben war, genau den Menschen zu verletzen, den ich am meisten liebe.“
„Danke, das bedeutet mir sehr viel. Ich möchte dir verzeihen, aber ich kann nicht vergessen, was vorgefallen ist. Das verstehst du doch, oder?“
Elias’ letzter Hoffnungsschimmer zerplatzte wie eine Seifenblase. „Ja, ich verstehe. Bist du wenigstens glücklich?“
„Ja, das Studium ist toll. Ich habe auch vor einer Woche jemanden kennengelernt. Er ist sehr gut zu mir. Ich glaube, ich könnte mir