Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl
du von deiner Mutter?“, wollte Stefan wissen.
„Ja, ich war bei ihr. Sie hat mittlerweile akzeptiert, dass es mit ihr zu Ende geht. Sie weiß die gemeinsame Zeit immer mehr zu schätzen, auch wenn sie das Krankenbett hüten muss“, sagte Elias melancholisch.
„Ist sie mit der Pflegerin zufrieden?“, fragte Stefan ehrlich interessiert.
„Ja, sie verstehen sich gut. Mara ist ein Engel. Ich bin froh, dass wir sie haben. Du weißt doch, dass mit Mutter nicht immer gut Kirschen essen ist. Aber Mara überspielt das, meint, sie sei doch todkrank. Gott sei Dank weiß sie nicht, dass Mama im gesunden Zustand auch oft ungemütlich werden konnte“, bemerkte Elias grinsend.
Stefan lachte. „Das ist wahr, Desiree kann sehr ungehalten sein. Das habe ich mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen. Aber das weißt du ja. Trotzdem tut es mir von Herzen weh, sie so bald verabschieden zu müssen. Weißt du, trotz all dem, was passiert ist, habe ich sie immer noch sehr gerne.“
Stefan wirkte betrübt. Er starrte in seine Kaffeetasse. Beide Männer legten eine kurze Redepause ein. Keiner wollte über den bevorstehenden Tod von Elias’ Mutter, Desiree Benjamin, sprechen.
„Du weißt, dass ich dich liebe?“, begann Stefan erneut in eindringlichem Ton.
„Natürlich“, antwortete Elias, den Blick auf den Boden gerichtet.
„Genauso wie deine Schwestern. Ich hab mich immer als dein Vater gesehen. Schließlich warst du ein Teil unserer Familie.“
Elias nickte. Er schluckte – hoffentlich unbemerkt – den Kloß, der in seinem Hals saß, hinunter.
„Es tat mir weh, als du aufhörtest, mich Papa zu nennen.“ Stefans Augen sahen traurig zu der großen Eiche, die in seinem Garten stand. Efeu rankte sich an ihrem Stamm nach oben.
„Das wusste ich nicht“, antwortete Elias ehrlich, ein reumütiger Unterton schwang in seiner Stimme mit.
„Wenn du nach deinem leiblichen Vater suchst, jagst du einem Phantom nach. Deine Mutter wollte nur das Beste für uns alle, als sie entschied, ihn komplett aus deinem Leben zu streichen.“
„Das heißt, du kennst ihn?“ Elias konnte seine Neugierde nicht verbergen.
„Ja und nein. Er kam einmal zu Besuch, um dich und deine Mutter zu sehen. Aber er riss damit nur alte Wunden wieder auf.“
„War das der Mann, der eines Tages einfach so am Gartenzaun stand?“
Stefan überlegte ein paar Sekunden, ehe er sich zu einer Antwort durchrang. „Ich respektiere die Entscheidung deiner Mutter, dir nichts über seine Identität zu verraten. Aber deshalb bist du ja auch nicht gekommen“, würgte Stefan das Gespräch abrupt ab.
„Nein, ich möchte den Beginn eurer gemeinsamen Geschichte erfahren, ich meine die von dir und Mama.“
Stefan räusperte sich. Eine schwere Wehmut lag in seinen alt wirkenden Augen, er rang sichtlich nach den ersten Worten. Elias wartete geduldig, er wusste, wie schwer es seinem Stiefvater fiel, die Vergangenheit auszusprechen.
„Es war ein sonniger Sommertag im August 1978, der Boden flimmerte vor Hitze. Alle versammelten sich zu einem Dorffest. Das war die Gelegenheit, die Arbeit ruhen zu lassen und gemeinsam mit den Nachbarn zu feiern. Jeder war erleichtert, bei dieser Hitze sein Tagwerk niederlegen zu können. Bis auf ein paar Ausnahmen ließ sich das Spektakel keiner entgehen. Vor allem ich nicht, denn ich war verliebt. In deine Mutter Desiree, damals bildhübsche zwanzig Jahre alt. Nur wusste sie nichts davon, denn ich traute mich nicht, es ihr zu sagen. Aber ich nutzte jede noch so kleine Sekunde, in der ich sie ansehen konnte.“ Eine Träne der Freude rann über seine Wange.
„Das sieht dir gar nicht ähnlich. Ich hab dich immer als sehr ehrlich und direkt erlebt“, warf Elias ein.
„Na ja, ich war jung, genauer gesagt achtzehn Jahre. Und es schüchterte mich enorm ein, dass Desiree zwei Jahre älter war als ich.“
Elias musste kichern.
Stefan blickte ihn mahnend an, musste dann aber auch auflachen, ehe er fortfuhr: „Sie war damals mit meiner Schwester Christina befreundet, sie waren beste Freundinnen. Du weißt, wen ich meine? Tante Christina, die nach Texas ausgewandert ist.“
„Klar, aber du weißt, dass ich sie nie persönlich kennengelernt habe.“
„Eigentlich schade. Du hättest sie gemocht, ein herzensguter Mensch. Etwas zu überdreht, aber ansonsten voll in Ordnung. Na ja, ich machte mir den Umstand zunutze und spionierte die beiden so oft aus, wie es ging. Jeder Blick auf deine Mutter genügte mir, um mich eine begrenzte Zeit lang der Schwärmerei hinzugeben. Und so beobachtete ich sie auch an diesem Tag, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln. Es nervte mich, wenn sie mit einem der jungen Männer redete, die Interesse an ihr zeigten. Die hatten auch bemerkt, wie schön deine Mutter war. Ich hatte Angst, nie eine Chance bei ihr zu bekommen, wegen der Blicke, die ihr die Jungs aus dem Dorf zuwarfen.
Aber der absolute Schreckmoment des Tages kam erst zu später Stunde, als fast alle betrunken waren. Es läuft mir heute noch kalt über den Rücken, wenn ich daran denke. Und schuld daran ist mein eigener Vater. Er setzte sich neben Desiree und ich musste zusehen, wie der alte, widerliche Sack seine Hand über ihren Oberschenkel gleiten ließ. Ich wusste, dass er seine Finger nicht von jungen Mädchen lassen konnte. Meine Mutter weinte oft tagelang deswegen, aber nun ging er zu weit. Unfassbare Wut stieg in mir auf. Aber ich war wie gelähmt, genauso wie meine Mutter, die es nicht einmal in Erwägung zog, den Hurenbock vor die Tür zu setzen.
Viel zu lange wartete ich ab, ließ in meiner Handlungsunfähigkeit zu, dass er Desiree nach Hause begleitete. Aber ich folgte ihnen, huschte wie ein Schatten hinter ihnen her. Und es kam, wie es kommen musste. Er führte sie in eine dunkle Ecke. Sie kicherte sogar. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er meine Desiree küsste. Das war so erniedrigend, mein eigener Vater mit seinen vierzig Jahren küsste ein halb so altes Mädchen, in das sein Sohn verliebt und das die beste Freundin seiner Tochter war. Ich fragte mich ernsthaft, wer ihm ins Hirn geschissen hatte.
Erst als Desiree zu schreien begann, weil er sie zu sehr bedrängte, kam ich zur Besinnung. Wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er nicht aufhören, ehe er genug hatte. Davon musste ich ihn um jeden Preis abhalten.
Wagemutig erhob ich meine Stimme: ,Lass sie los, du notgeiler Sauhund.‘
Mein Vater wirbelte herum. ,Ah, mein nichtsnutziger Sohn‘, kam sichtlich enttäuscht aus seinem Mund.
,Hilf mir‘, schrie Desiree panisch. Mein Vater hielt sie immer noch an die Wand gedrückt.
,Siehst du nicht, dass sie Angst vor dir hat?‘, fuhr ich ihn brüllend an.
,Das ist mir ein guter Fick allemal wert. Eine frische Muschi ist weitaus leckerer als die verstaubte deiner Mutter.‘
Diese Worte waren der Auslöser, den ich brauchte, um mich endgültig von ihm zu distanzieren. Angewidert beschloss ich genau in diesem Moment, dass er für mich gestorben war. Aber jetzt hieß es kämpfen um meine große Liebe. In meinen Augen zählte nur noch Desiree.
,Ich warne dich‘, entfuhr es mir etwas zu zittrig.
So als hätte ich nichts zu sagen, wandte er sich wieder Desiree zu und fing an, seinen Penis an ihr zu reiben.
Sie schrie, so laut sie konnte: ,Stefan, hilf mir.‘
Ungeahnte Stärke erfüllte mich. Wütend packte ich meinen Vater von hinten. Dieser drehte sich um und wollte mir einen Kinnhaken verpassen. Aber aufgrund seines Alkoholpegels war ich schneller. Ich rammte mein Knie in seine Weichteile. Er sackte zusammen und lag, sich den Schritt haltend, mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.
,Du greifst sie nie wieder an und auch kein anderes Mädchen, verstanden?‘
Ahnend, was mir blühen würde, wenn er wieder hochkam, schnappte ich Desirees Hand und wir liefen, so weit uns unsere Beine trugen. Irgendwo am Waldrand