Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl

Insel der verlorenen Träume - Karin Waldl


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      Am Anfang versuchte ich noch, sie zu verführen. Ich sehnte mich nach ihrer Wärme. Desiree erfüllte auf meinen Wunsch hin auch ihre ehelichen Pflichten, aber sie war nicht wirklich da. Wenn wir gemeinsam im Bett waren, erkannte ich die Frau, die ich so sehr liebte, überhaupt nicht mehr wieder. Sie schaltete mich weg. Leidenschaft war nie ihr Ding gewesen, aber das war noch einmal eine andere Liga. Sie meinte es nicht böse, aber ich konnte ihre Anwesenheit nicht mehr spüren. So versuchte ich immer seltener, mit ihr intim zu werden.

      Je mehr Jahre ins Land gingen und ich meinen sexuellen Trieb hintanstellen musste, umso mehr zog ich mich selbst zurück. Sie konnte mir nicht geben, wonach ich mich sehnte. Sie war in meinen Augen keine Ehefrau mehr. Sie war meine beste Freundin und die Mutter meiner Kinder. Ich rang lange mit mir, ob ich nicht überreagierte. Aber meine Seele blutete unaufhörlich. Meine große Liebe Desiree war da, aber ich konnte sie nicht haben. Ich hatte sie verloren. Und so beschloss ich zu gehen, nach vierzehn Jahren der inneren Qual. Du hast mich gehasst genauso wie deine Schwestern. Ihr konntet es nicht verstehen, weil ihr uns immer als Freunde erlebt hattet. Ich war todunglücklich, sah mich in einer ausweglosen Situation. Ich überlegte sogar, ob es noch einen Grund gäbe, um weiterzuleben.“

      „Du wolltest dich umbringen?“, fragte Elias entsetzt.

      „Nein, zumindest habe ich es nie versucht. Aber der Schmerz über den Verlust war unerträglich. Bis zu dem Tag, als du, damals gerade fünfzehnjährig, zu mir kamst.“

      „Was meinst du?“ Elias war neugierig geworden.

      „Du kamst mich besuchen, denn du warst damals die Hälfte der Woche bei mir. Aber das weißt du ja. Wir wollten gemeinsam zu einem Fußballspiel vom FC Bayern München fahren. Ich wollte es dir so leicht wie möglich machen, die Trennung zu verkraften. Doch wir kamen nie an. Weißt du das noch?“

      „Klar, ein paar Hooligans randalierten an der Straßenbahnhaltestelle und wir waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Einer warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf einen vermeintlichen Rivalen, der ihn provoziert hatte. Du warst hinter ihm. So schnell konnte ich gar nicht schauen, als du schon mit dem Hinterkopf auf dem steinernen Treppenabsatz landetest. An deinem Schädel klaffte eine Platzwunde. Du warst bewusstlos“, beendete Elias die Geschichte.

      „Ja, und im Krankenhaus erzählten sie mir, wie souverän du dich verhalten hattest. Du hast dich schützend vor mich gestellt und andere Passanten aufgefordert, mich ebenfalls von der raufenden Meute abzuschirmen. Es funktionierte, Polizei und Rettung erledigten den Rest. Du hast mir das Leben gerettet, mich davor bewahrt, von den flüchtenden Massen, die Angst vor den Schlägern hatten, erdrückt zu werden. Das war so mutig von dir. Du hast selbstlos mein Wohl über deines gestellt.“ Jetzt flossen Stefan endgültig die Tränen über die Wangen.

      Elias legte die Hand auf die Schulter seines Stiefvaters. „Das war doch selbstverständlich. Du warst mir immer ein guter Vater – wie oft hast du etwas für mich getan, das andere Väter nicht für ihre Söhne machen?“

      „Danke, Elias. Das bedeutet mir sehr viel. Auf jeden Fall war dieses Ereignis der Punkt, an dem ich wieder wusste, dass das Leben lebenswert ist. Ich fühlte mich gebraucht. Ich wollte nie wieder vergessen, dass meine erwachsenen Töchter und mein toller Teenagersohn ein Recht auf ihren Vater hatten.“

      Elias schaute betreten seinen Kaffeesatz an und fragte vorsichtig: „Ich bin froh, dass du immer für mich da warst. Aber glaubst du nicht, ich hätte auch ein Recht auf meinen leiblichen Vater?“

      Eine lange Pause entstand, Stefan schien seine Worte genau abzuwägen. „Wahrscheinlich ja, aber es ist nicht meine Entscheidung. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

      Mehr hatte Elias nicht erwartet. Er verstand mittlerweile, in welcher Zwickmühle sich sein Stiefvater befand. Man sah in seinem Gesicht, wie sehr er mit sich rang.

      Überrascht, wie ruhig er selbst bleiben konnte, verspürte Elias plötzlich den Drang, Stefan etwas Nettes zu sagen. „Danke, dass du dich auch nach deinem Auszug um mich gekümmert hast. Selbst wenn ich es jetzt erst verstehen kann, warum du gegangen bist. Es tut gut, wenn man etwas erklärt bekommt. Es ist sehr heilsam und lindert Schuldgefühle.“

      Stefans gequälte Miene verschlimmerte sich. Elias wurde schlagartig bewusst, dass er seine Worte falsch formuliert hatte. Sie mussten in Stefans Ohren wie ein Vorwurf geklungen haben.

      *

      Desiree

      „Mama, ich war für dich bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Das beste Drehbuch ist dieses Mal von dir. Ich bin so stolz auf dich! Ich durfte mich stellvertretend für dich bedanken.“

      Elias’ überschwängliche Euphorie wich einem besorgten Blick. Seine Mutter starrte stumm durch ihn hindurch, in ihren müden, glanzlosen Augen lag ein Anflug von Melancholie. Sie wirkte nicht wie eine Sechzigjährige, sondern sah aus, als wäre sie mindestens zwanzig Jahre älter. Sie bedeutete ihm, sich zu ihr ans Bett zu setzen. Gehorsam ließ er sich auf der Bettkante nieder und beugte sich über die einst starke, nun aber schwerkranke Frau, um ihre schwache Stimme besser hören zu können.

      „Elias, das ist schön. Aber es gibt Wichtigeres zu besprechen. Der Tag ist gekommen, an dem du endlich die Wahrheit erfahren sollst.“

      Elias war überrascht über diese kaum hörbaren, gehauchten Worte. Woher kam der plötzliche Sinneswandel? Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Er hatte mittlerweile ernsthaft gedacht, seine Mutter würde ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.

      Mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck nahm er ihre von Falten durchzogene, kühle Hand. Es war kaum mehr Leben in ihr. Endlich würde ihn seine Mutter von der quälenden Ungewissheit erlösen. Angespannt schien sein Herz die einzelnen Schläge auseinanderzuziehen wie ein Gummiband, das sachte gedehnt und langsam wieder losgelassen wurde. Er wusste genau, worum es ging, ohne dass sie es erklären musste. Denn es gab nur eine Geschichte, die verschleiert im Schatten des Schweigens zwischen ihnen stand: die Wahrheit über seinen leiblichen Vater.

      „Im Nachtkästchen liegt ein Brief. Lies ihn bitte laut vor“, krächzte sie kraftlos. Elias griff nach dem antiken, schmiedeeisernen Schlüssel und drehte ihn einmal nach rechts. Er schob die Lade auf und betrachtete den Inhalt. Er sah darin eine Lesebrille, Taschentücher, ein Buch und ein Lesezeichen verstreut herumliegen, aber definitiv keinen Brief. Fragend sah er seine Mutter an.

      „Die Lade hat einen doppelten Boden“, wies sie ihn an.

      Elias untersuchte das spröde gewordene Eichenholz und entdeckte eine gut versteckte Kerbe. Er grub seine Fingernägel hinein und löste den Boden. Darunter befand sich ein vergilbter Brief. Auf ihm stand in geschwungenen Lettern Elias.

      Elias nahm ihn an sich und runzelte nachdenklich die Stirn. Ein unsicherer Blick fiel auf seine Mutter, die große Desiree Benjamin, erfolgreiche deutsche Drehbuchautorin, Verfasserin unzähliger Theaterstücke, oder besser gesagt auf das, was noch von ihr übrig war in ihrem anhaltenden Elend. „Lies schon, ich habe nicht mehr ewig Zeit“, drängelte sie und lächelte gequält.

      „Zumindest deinen Humor hast du noch nicht ganz eingebüßt.“ Elias atmete tief durch. Langsam las er die Anrede vor. „Geliebter Elias!“ Er stockte. „War das mein leiblicher Vater?“ Er hatte Angst vor der Antwort, doch seine Mutter nickte. Eine Träne floss ihm über die Wange. „Ich heiße genauso wie er! Warum hast du mir das nie gesagt?“, fragte er aufgeregt.

      Desiree überspielte die Frage mit einer Handbewegung, die „Weiterlesen“ bedeutete.

      Elias räusperte sich, ehe er mit unruhiger Stimme fortfuhr:

      Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich die Zeit mit dir vermisse. Ich liebe dich immer noch von ganzem Herzen und kann mir nicht vorstellen, dich jemals zu vergessen. Jedes Mal wenn ich unseren Sohn ansehe, muss ich an dich denken. Er ist dir sowohl im Wesen als auch im Aussehen sehr ähnlich. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich so immer einen Teil von dir ganz nah bei mir habe. Und ich darf ihn bedingungslos mit meiner Mutterliebe überschütten. Dafür


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