109th. Jessica Oheim
immer schwierig, die Kinder oder Verwandten von angesehenen, politisch bekannten Menschen vor Gericht zu verurteilen. Aber ich behielt auch auf den zweiten Blick recht, denn die Beweislage war mehr als nur eindeutig. Diese Kerle würden für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen. Mein Blick fiel auf den Namen des Anwalts, der den Sohn des Bürgermeisters vertreten würde, und ich sog scharf die Luft ein. Der Verteidiger war Johannes Benett, einer der besten, nein, eigentlich der beste Anwalt in ganz New York. Doch er war nicht nur das, er war auch mein Mentor gewesen. Er hatte schon Mandanten herausgeboxt, bei deren Fällen die Beweislage ähnlich eindeutig gewesen war. Früher hatte er als Staatsanwalt gearbeitet, ebenso wie ich. Als er seine eigene Kanzlei aufmachte, war ich ihm auf seinen Wunsch hin gefolgt.
Ich widerstand dem Drang, mir die Akte ein drittes Mal durchzulesen, sondern versuchte mich stattdessen selbst zu beruhigen. Die Beweislast war eindeutig. Den Sohn des Bürgermeisters konnte nicht einmal Johannes Benett vor dem Gefängnis bewahren.
Ich klappte die Akte zu, widmete mich wieder dem Papierstapel auf meinem Tisch und arbeitete mich Stück für Stück hindurch. Nach einer Stunde war meinem Kugelschreiber schon die Hälfte der Blätter zum Opfer gefallen.
Als es plötzlich an der Tür klopfte, hob ich froh über die Ablenkung meinen Kopf. „Herein.“
Eine Kollegin meiner älteren Schwester öffnete die Tür und sagte: „Hallo Jenny.“
„Hallo Detective Johnson, was gibt’s?“
„Ich habe dir doch schon gesagt, dass du mich Lena nennen sollst.“ Ich nickte. Was das anging, hatte ich mich schon immer schwergetan.
„Wir haben dich als neue Kollegin noch gar nicht offiziell willkommen geheißen. Wir treffen uns in fünf Minuten im Pausenraum.“
Ich lächelte. Meine Schwester hatte mir schon erzählt, dass neue Kollegen hier auf dem Revier immer mit einem Kaffeetrinken begrüßt und in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. „In Ordnung, in fünf Minuten.“
Die Polizistin nickte und verließ mein Büro. Ich sah noch einen Moment zur Tür und versuchte mich zu erinnern, was Sophie mir über Lena Johnson erzählt hatte. Nach kurzer Zeit fiel es mir wieder ein. Sie war die Kollegin meiner Schwester, die schon am längsten mit ihr zusammenarbeitete, und gemeinsam bildeten sie das beste Team dieses Reviers. Ich füllte noch das Formular fertig aus, an dem ich gerade arbeitete, und stand dann auf, um in den Pausenraum zu gehen. Dort hatte sich schon das ganze Team versammelt und war damit beschäftigt, Kaffee für alle zu machen.
„Hey“, sagte ich, als ich den Pausenraum betrat. Meine Schwester strahlte mich an und auch Lena lächelte mir zu.
„Der Kaffee ist gleich fertig“, meinte Sam Jones, sah kurz von der Maschine auf und widmete sich dann den Tassen, die vor ihm auf einem Tischchen standen.
Interessiert sah ich mich in dem kleinen Pausenraum um. Neben einigen Tischen und Stühlen befanden sich sogar eine Theke und ein Kühlschrank hier drin.
„Pass doch auf, Sam“, lachte Anna Chambers und ich richtete meinen Blick auf die Technikexpertin, die den kaffeekochenden Kollegen gerade spielerisch in die Seite boxte. „Das Shirt ist nagelneu.“
Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Typisch Frau.“
Anna streckte ihm die Zunge raus und verteilte jeweils eine Tasse an Sophie und mich. Sam nahm die anderen beiden Becher und gab einen davon Lena.
Schließlich ergriff Sophie das Wort, während sie ihre Tasse hob. „Auf meine kleine Schwester Jenny Parker, die ab jetzt unsere Täter hinter Gitter bringen wird.“
Wir anderen hoben unsere Tassen ebenfalls und Anna, Sam und Lena sprachen im Chor: „Auf Jenny Parker.“ Wir prosteten uns zu, wie man es normalerweise, wenn man nicht gerade im Dienst war, mit Sektgläsern machte, und tranken dann.
„Wollen wir uns nicht hinsetzen?“, fragte Anna und wies auf die Tische.
Wir stimmten ihr zu und setzten uns.
„Na, dann erzähl doch mal, Jenny, wo hast du denn vorher gearbeitet?“
Ich nahm noch einen kleinen Schluck von meinem Kaffee und antwortete dann ausweichend: „Am anderen Ende von New York.“
„Sei doch nicht so bescheiden, Jenny“, meinte Sophie mit einem Schmunzeln. Und an meiner Stelle erklärte sie: „Sie hat in Johannes Benetts Anwaltskanzlei gearbeitet, er war ihr Mentor.“
„Er war dein Mentor?“, fragte Sam ungläubig und sah mich fragend an.
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ja, das war er.“
„Er ist der beste Anwalt der Stadt! Du solltest dich wirklich nicht unter Wert verkaufen“, fügte Lena hinzu.
Ich senkte den Kopf und nippte stumm an meinem Kaffee. Dass Johannes Benett gleich in meinem ersten Fall der Verteidiger war, erzählte ich den anderen nicht. Warum auch? Das war mein Problem und Hilfe wollte ich nicht. Ich wollte mich beweisen. Und dafür musste ich, so viel war mir klar, diesen Fall gewinnen. Sophie hätte jetzt gesagt, dass die Beweise eindeutig seien. Und damit hätte sie ja auch recht. Ich musste nur an mich glauben, dann würde ich diesen Fall gewinnen. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken darüber machen.
Also nahm ich noch einen Schluck Kaffee und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. „Und wie lange arbeitet ihr jetzt schon zusammen?“
Das Team sah sich an und Anna antwortete als Erste: „Ich bin vor zwei Jahren dazugestoßen. Davor habe ich in einer anderen Abteilung dieses Reviers gearbeitet, die aber aufgelöst wurde. Ich hatte Glück und konnte diesem Team beitreten.“
„Du hattest Glück?“, fragte meine Schwester lächelnd. „Wir hatten Glück, dass du zu uns gestoßen bist!“
Anna lächelte und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Nun sprach Sam weiter: „Ich war bis vor drei Jahren beim Drogendezernat. Dann wurde ich sozusagen befördert und nun ja ... jetzt bin ich hier.“
Ich nickte ihm zu und sah dann Lena an. Diese stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab und begann zu erzählen: „Als ich vor fünf Jahren die Polizeiakademie verließ, wurde ich in dieses Revier versetzt. Von da an habe ich mit deiner Schwester zusammengearbeitet. Irgendwann kamen Sam und Anna dazu und jetzt machst du unser Team komplett.“
Ich lächelte. Es gefiel mir, dass alle so freundlich und respektvoll miteinander umgingen. In der Anwaltskanzlei, bei der ich bisher gearbeitet hatte, waren alle Kollegen knallharte Konkurrenten gewesen. Es ging dort zu wie in einem Haifischbecken, ein ständiger Machtkampf um das Honorar und die Fälle. Ich war froh, dass ich dort raus war, auch wenn ich tatsächlich einen tollen Mentor gehabt hatte. Doch der war jetzt nicht mehr Staatsanwalt, sondern Rechtsanwalt für diejenigen, die es sich leisten konnten.
Ich nippte wieder an meinem Kaffee und ließ meinen Blick über meine neuen Kollegen schweifen. Sie waren alle so unterschiedlich. Lena mit ihren dunkelbraunen, schulterlangen Haaren und braunen Augen. Meine Schwester Sophie mit ihren blonden Haaren und den grünen Augen. Und dann war da noch Sam mit seinen dunkelblonden Haaren und den hellblauen Augen. Gerade als ich ihn musterte, sah er auf und ich entdeckte so etwas wie ein belustigtes Funkeln in seinen Augen, woraufhin ich meinen Blick hastig abwandte. Aber sie alle unterschieden sich nicht nur in ihrem Aussehen voneinander, sondern vor allem in ihrem Charakter.
Während Anna sehr kontaktfreudig und offen war, war Lena eher stiller. Sie war trotzdem nett und hieß mich aufrichtig willkommen, aber sie war nicht der Typ, der anderen leichtfertig vertraute. Meine Schwester war eine Frau, die gerne Befehle erteilte, aber auch im Team arbeiten konnte. Und dann war da noch Sam. Bei ihm war ich mir noch nicht ganz schlüssig. Einerseits war er ziemlich ruhig, aber charmant und offensichtlich einer der besten auf seinem Gebiet.
Alle vier waren so verschieden und doch bildeten sie eine vertraute Einheit. Aber vielleicht war genau das der Grund, warum sie so gut zusammenarbeiteten. Doch das war mir eigentlich egal. Ich wollte nur einem Team angehören, in dem respektvoll miteinander umgegangen wurde.