109th. Jessica Oheim

109th - Jessica Oheim


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die Runde.

      „So wie ich das sehe, hast du noch ziemlich viel Papierkram zu erledigen, oder nicht?“, neckte mich meine Schwester.

      Ich seufzte. Das stimmte zwar, aber Akten zu wälzen zählte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. „Ja, du hast recht. Ich sollte mich wieder an die Arbeit machen.“ Also stand ich auf und nickte in die Runde. Dann verließ ich den Pausenraum und begab mich zurück in mein Büro, um dem Papierstapel, der sich noch immer auf meinem Schreibtisch türmte, endgültig den Garaus zu machen.

      „Und wie kommst du voran?“, fragte mich Sam, als er wenig später mein Büro betrat.

      Ich zuckte leicht zusammen und fuhr ihn etwas lauter als beabsichtigt an: „Kannst du nicht anklopfen?“

      Seine Wangen wurden rot und er murmelte eine Entschuldigung.

      Ich entspannte mich wieder und erwiderte: „Wenn ich ständig unterbrochen werde, dann werde ich damit wohl nie fertig.“ Aber ich lächelte dabei und Sam nickte. „Also, was gibt’s?“

      Er hob ein paar Dokumentenmappen hoch und meinte: „Ich habe einige Akten für dich.“

      Ich seufzte. „Offensichtlich. Aber wo kommt denn diese ganze Arbeit nur her?“

      Sam lächelte und erwiderte: „Na, dann bin ich ja froh, dass das hier keine Arbeit ist, sondern deine Verträge. Sie wurden soeben von der Chefetage unterschrieben zurückgeschickt.“

      Froh darüber, dass ich nicht noch mehr Arbeit zu erledigen hatte, ließ ich meine Schultern sinken und sah Sam erleichtert an. „Danke, dass du mir das persönlich gebracht hast.“

      Er nickte mir zu, legte die Papiere auf den Tisch und verließ mein Büro. Ich nahm den Stapel und packte ihn in meine Schublade. Das musste warten, bis der andere Papierkram erledigt war. Also machte ich mich wieder an die Arbeit, doch schon nach kurzer Zeit schweiften meine Gedanken ab. Ich drehte mich mit meinem Schreibtischstuhl um und blickte durch das riesige Fenster auf die Straße hinaus. Auf diesen Straßen war nicht sonderlich viel los und ich arbeitete im ersten Stock, während ich früher in der 15. Etage eines Hochhauses mein Büro gehabt hatte. Wenn ich dort aus dem Fenster gesehen hatte, war in der Tiefe nur geschäftiges Treiben auszumachen gewesen. Die vielen Autos glichen einer Blechlawine, die den Verkehr oft zum Erliegen gebracht hatte. Die Taxen hupten ständig, während die wütenden Fahrgäste, die sich über den Stau auf der Straße aufregten und deshalb beschlossen, nun doch die U-Bahn zu nehmen, ausstiegen und davonhasteten.

      So war es mir selbst bis vor einem knappen Jahr gegangen. Damals befand ich mich noch mitten im Jura-Studium und konnte mir kein eigenes Auto leisten. Deshalb musste ich wohl oder übel mit der U-Bahn fahren. Doch an manchen Tagen, wenn ich keine Lust hatte, in einen der überfüllten Waggons zu steigen, hatte ich mir ein Taxi genommen. Das hatte dann aber meist zu dem gleichen Ergebnis geführt, wie ich es von meinem früheren Büro aus häufig beobachtet hatte.

      „Ich fahre jetzt mit dem Team los, wir haben einen neuen Fall“, riss mich meine Schwester aus meinen Gedanken.

      Ich war so versunken gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie sie mein Büro betreten hatte. Während ich mich mit meinem Stuhl drehte, fragte ich: „Wo geht es hin?“

      „Im Kissena Park wurde eine Leiche gefunden.“

      „Na, dann lass die anderen lieber nicht warten“, meinte ich.

      „Wir melden uns, wenn wir wieder da sind.“

      Ich nickte zustimmend und sie verließ mein Büro. Danach lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und lächelte. Das würde mein erster offizieller Fall werden, den ich schon während der Ermittlungen als Staatsanwältin betreute. Mein erster Fall für dieses Revier. Meine erste Gelegenheit, um mich vor den anderen zu beweisen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich das als viel schwieriger erweisen würde, als ich zu diesem Zeitpunkt annahm.

      ***

      „Anna und Sam, ihr redet mit den Zeugen und nehmt ihre Aussagen auf. Lena, du koordinierst dich mit der Spurensicherung und sorgst dafür, dass wir alle Informationen erhalten“, verteilte Sophie die Aufgaben, als sie endlich mit ihrem Team am Fundort der Leiche eingetroffen war.

      Der Verkehr war, obwohl es schon fast 14 Uhr war, im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch gewesen und so hatten sie statt sechs fast zwanzig Minuten gebraucht. Sofort machten sich alle an die Arbeit und Sophie ging zu der Bank, die durch das gelbe Absperrband als Tatort gekennzeichnet war. Dort kniete der Gerichtsmediziner Jim Conner.

      Als sich Sophie neben ihm niedersinken ließ, sah er kurz von seiner Arbeit auf und begrüßte sie. „Ah, Detective Parker. Schön, dass Sie auch endlich hier bist.“

      „Der Verkehr hat es leider nicht anders zugelassen, aber du hast offensichtlich schon mal ohne mich angefangen“, bemerkte Sophie und wandte sich dann der jungen Frau zu, die leblos auf der Parkbank lag. „Also, was haben wir?“

      Jim blickte auf sein Klemmbrett und erwiderte: „Junges Mädchen, etwa 16 Jahre alt, kein Ausweis oder sonstige Papiere, durch die wir sie identifizieren könnten.“ Er griff neben sich und hob ein kleines Tütchen vom Boden auf, in dem sich zwei Münzen befanden. „Das lag auf ihren Augen, als sie gefunden wurde.“

      Mit gerunzelter Stirn nahm Sophie das Tütchen in die Hand und betrachtete seinen Inhalt genauer. Es handelte sich um ganz normale Münzen, wie sie jeder in seinem Geldbeutel hatte.

      „Das lag auf ihren Augen?“, fragte sie leicht verwirrt. Jim nickte und widmete sich dann wieder seinem Klemmbrett. „Haben die Zeugen die Münzen angefasst?“, wollte Sophie nach einigen prüfenden Blicken wissen.

      Jim sah wieder auf und dieses Mal schüttelte er den Kopf: „Nein, soweit ich weiß nicht.“

      „Gut, dann sollen die Forensiker darauf nach Fingerabdrücken suchen.“ Sie steckte das Tütchen ein und wollte nun von dem Gerichtsmediziner wissen: „Was war die Todesursache?“

      „Blutverlust aufgrund der vielen Schnittwunden.“

      Sophie musterte den Körper des Opfers, der mit Schnittwunden übersät war. „Dieses Mädchen muss schrecklich gelitten haben!“, schoss es ihr durch den Kopf. „War sie noch am Leben, als ihr diese Verletzungen zugefügt wurden?“, fragte sie laut.

      „Ja. Keiner dieser Schnitte wurde post mortem ausgeführt“, bestätigte Jim Sophies Verdacht. „Dieses Mädchen hat unglaublich gelitten“, sprach er nun ihren Gedanken aus.

      „Der Todeszeitpunkt?“, überging Sophie diese Bemerkung, um die Beklommenheit zu verdrängen, die sie beim Anblick dieses Mädchens überfallen hatte.

      „Sie starb etwa um 23 Uhr gestern Abend. Aber diese Schnittwunden sind teilweise schon drei Tage alt.“

      „Sie wurde über Tage hinweg gefoltert?“, stellte Sophie ungläubig fest.

      „Leider ja“, meinte Jim bedauernd und sah das tote Mädchen traurig an. „Ich sehe jeden Tag solche Leichen, da sollte man doch meinen, dass ich mich an diesen Anblick gewöhnt habe.“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

      Tröstend legte Sophie ihm eine Hand auf den Rücken. „Hey, Jim. Du machst das doch erst seit knapp einem Jahr. Außerdem zeigt das nur, dass du ein Mensch bist. Ich mache diesen Job schon fünf Jahre und ich kann dir sagen, an so einen Anblick gewöhnt man sich nie.“ Sie stand auf und nickte dem Arzt noch einmal aufmunternd zu, bevor sie sich auf den Weg zu Sam und Anna machte, die in einigen Metern Entfernung auf sie warteten.

      „Was haben die Zeugen gesagt?“, fragte Sophie, als sie bei ihren Kollegen angekommen war.

      „Die Zeugen heißen Maria und Cole Smith. Sie liefen wie jeden Tag ihre Runde im Park und fanden dabei das Opfer.“

      „Haben sie sonst noch jemanden gesehen? Irgendeinen Verdächtigen?“

      Anna schüttelte den Kopf. „Nein, das Ehepaar hat niemanden gesehen.


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