Der Grüne Planet. Erik Simon
einen ganzen Stamm töten oder einen Steinhaufen verbrennen. Von den Fliegenden Dramps, sagte Schan, sollen auch die Wollratten, die wir in unseren Fallgruben fangen, so groß geworden sein, aber das kann ich mir nicht recht vorstellen. Dann kam jedenfalls die Lange Dämmerung und dann das Große Eis, die Große Wärme gab es nicht mehr, die Vormenschen auch nicht, für uns aber, die wahren Menschen, begann das gute Leben, wie es die Erste Greta verkündet hat.
Das ist, glaube ich, alles, was du über das Dramp wissen musst. Über die Große Wärme wussten weder Schan noch die anderen Südländer, mit denen ich gesprochen habe, viel zu berichten, aber das haben wir ja alles in den Greta-Liedern. Von der Langen Dämmerung kann ich dir ein andermal mehr erzählen. Jetzt aber musst du erfahren, wozu ich dir das alles sage. Ich fürchte, die Leute im Süden – und hinter den Bergen mit dem Anderen Eis soll es noch viel mehr davon geben – werden weiter ihre Dramps anzünden, und es ist egal, ob Koler Dixi nun ein Geist ist oder ein Gift: Wenn er wieder eine Große Wärme bringt, ertrinken wir zusammen mit den Wollratten, und sonst werden wir zusammen mit ihnen vergiftet.
Wir müssen die Südländer dazu bringen, auf ihre Dramps zu verzichten, oder vielleicht erst einmal nur noch im Winter welche zu machen. Aber denen ist es egal, ob es warm wird, sie brauchen kein Großes Eis, kein Langes Gras und keine Wollratten, und wir sind viel zu wenige, um gegen sie kämpfen zu können. Wenn wir sie also zwingen wollen, werden wir richtig große Fliegende Dramps brauchen und riesige Bögen, um diese Dramps abzuschießen. Ich glaube, unserer Greta darf man das nicht sagen, aber vielleicht wird es bei der nächsten Greta gehen? Oder bei der Greta von einem Nachbarstamm?
Vor allem müssen wir erst einmal lernen, wie man jederzeit ein Dramp machen kann. Ich habe es schon oft versucht, Steine aneinandergeschlagen, Holz an Steinen gerieben oder an anderem Holz, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Wenn hier wirklich einmal Meeresgrund war, liegen hier vielleicht die falschen Steine, oder das Holz von unseren niedrigen Sträuchern taugt nichts, und den Staub von getrockneten Pilzen haben wir hier auch nicht. Am einfachsten wird es sein, wenn wir uns ein paar von den durchsichtigen Steinen beschaffen. Ich habe damals, als ich im Süden war, noch nicht begriffen, dass ich welche mitnehmen sollte, aber einer von unseren jungen Männern kann das tun – in den Steinhaufen, hat Schan gesagt, finden sie immer wieder welche. Du selbst bist nicht besonders gut geeignet; schick einen von den Kräftigen, Unruhigen, vielleicht Bern, wenn er noch etwas älter geworden ist. Über den besten Weg nach Süden kann ich noch etwas erzählen, aber vielleicht findet er auch einen besseren. Und wenn er wieder da ist, sehen wir weiter – oder du, wenn ich dann schon unter dem Langen Gras liege. Und dann müsst ihr tun, was getan werden muss für unsere Zukunft.
WENN DER GROßVATER ERZÄHLT …
von Monika Niehaus
»Großvater, erzähl’ uns eine Geschichte!«, bat das kleine Mädchen und ergriff seine Hand.
»Ja, bitte, erzähl’ von damals, als es so warm war, dass der Breite Fluss niemals zufror!«, riefen die anderen Kinder und drängten sich näher um ihn ans Feuer, das sie im Inneren einer Ruine neben einem hohen Pfeiler entzündet hatten. Die Luft roch nach Erde und Rauch und dem Schweiß ungewaschener Menschen. Sie war so kalt, dass sie den Atem der Kinder wie Dampf aus ihren Mündern quellen ließ.
»Noch einmal? Habt ihr sie denn nicht schon oft genug gehört?«, fragte Großvater, ein Hüne mit blankem Schädel, dem sein hohes Alter kaum anzumerken war.
Energischer Protest. Nein, sie wollten noch einmal hören, wie alles gekommen war.
Von der Kochstelle, wo die Frauen der Sippe das Nachtmahl bereiteten, drang der Duft des Rattenragouts herüber, und er wusste, dass die Kleinen, bis es so weit war, ihren Hunger vergessen wollten.
»Nun, damals war es so warm, dass man den ganzen Sommer ohne Kleider herumlaufen konnte und sich im Wasser abkühlen musste, so heiß brannte die Sonne«, begann er.
»Und bei uns blühten überall Blumen, und es wuchsen Früchte, Orangen und Zitronen, Wassermelonen und Weintrauben …«, seufzte der magere Junge neben ihm und schlang sein Fell enger um die Schultern, denn trotz des Feuers ließ ihn die eisige Luft frösteln. »Das muss herrlich gewesen sein!«
»Nun, nicht für alle Menschen«, meinte Großvater lakonisch, »denn in manchen Ländern wurde es so heiß, dass man dort nicht mehr leben konnte, und anderswo versanken Inseln einfach im Meer, weil überall das Eis schmolz und der Meeresspiegel stieg.«
Die Kinder blickten durch das zerfallene Gemäuer nach draußen. Obwohl es bald Frühling werden sollte, trieben noch immer Eisschollen auf dem Breiten Fluss an ihrem Unterschlupf vorbei, und wenn sie am Ufer entlangscheuerten, drang ihnen das Knirschen und Knacken durch Mark und Bein. Eine Welt ohne Eis und Schnee, das konnten sie sich kaum vorstellen. Die Blumen, die sie am besten kannten, waren Eisblumen …
»Die Menschen, die von der Hitze aus ihrer Heimat vertrieben worden waren«, fuhr der Alte fort, »flüchteten also in kühlere Regionen, aber dort wollte man sie nicht haben.«
»Warum nicht?«, wollte der magere Jungen mit den dunklen Augen und dem wirren Haarschopf wissen.
Großvater hob die Hände.
»Die, die hatten, hätten mit denen, die nichts mehr hatten, teilen müssen. Und so etwas tun Menschen nicht gern – oder würdet ihr der Sippe auf der anderen Seite des Breiten Flusses die Hälfte eurer Wintervorräte abgeben?«
Allgemeines heftiges Kopfschütteln. So etwas wäre gar nicht infrage gekommen.
»Mit der Hitze kamen auch Krankheiten in die Länder des Nordens, die man früher nur aus den Tropen kannte«, nahm Großvater den Faden wieder auf. »Ebola und SARS, Lassa- und Dengue-Fieber, Affengrippe, Malaria und viele neue Infektionen, gegen die kaum ein Kraut gewachsen war, denn die Erreger waren gegen Antibiotika resistent geworden …«
Als er die verständnislosen Blicke seiner jungen Zuhörer bemerkte, korrigierte er sich: »Schreckliche Seuchen, gegen die auch die weisesten Frauen keine Hilfe wussten. Und so starben die Menschen hier bei uns und auch drüben auf der anderen Seite des Großen Wassers in Scharen. Und es wurde immer noch wärmer.«
Atomkraftwerke ließen sich nicht mehr kühlen und mussten abgeschaltet werden, was den Energiehunger der Habenden nur verstärkte, mussten sie doch ihre Häuser klimatisieren und Zäune gegen die andrängenden Massen der Habenichtse errichten. Und so suchte man jenseits des Großen Teichs überall im Land noch verbissener als zuvor nach unerschlossenen Energiequellen.
»Und je heißer es wurde, desto hektischer wurde die Suche, und desto wilder gaben sich die Habenden ihren Vergnügungen und Ausschweifungen hin … Es war tatsächlich ein Tanz auf dem Vulkan.
»Der Drache unter dem ›Gelben Stein‹ wurde wach, nicht wahr, Großvater?«, warf eines der älteren Mädchen ein, während es eine vorwitzige Laus zwischen den Fingerspitzen zerknackte.
»Genauso war es!«, bestätigte der Alte. »Mit ihrem Lärm und ihren Maschinen, die sich tief in die Erde bohrten, müssen sie etwas aus dem Schlaf gerissen haben, etwas sehr Mächtiges. Und sehr Zorniges. Jedenfalls begann der Drache, der tief unter dem ›Gelben Stein‹ schlief, zu rumoren, warf seinen Kopf hoch und peitschte derart mit seinem Schwanz, dass er die gesamte Decke seiner Schlafkammer absprengte. Tausende Tonnen glühende Magma und Gestein wurden hoch in die Luft katapultiert, sodass dort, wo der Drache geschlafen hatte, eine Caldera, eine riesige Mulde, entstand.«
Großvater unterbrach sich, hob einen Kiesel und verscheuchte mit einem gezielten Wurf eine Ratte, die quiekend in ihrem Loch verschwand.
»Und als der Drache sich umdrehte, um sich ein neues Lager zu bereiten, erschütterten Erdbeben das ganze Land. Das weckte seine Kumpane unter den anderen Vulkanen. Und auch die Seedrachen, die unter dem Meeresboden schliefen, wurden durch den Aufruhr wach und brachten das Meer zum Kochen. Überall wankte die Erde, als die Drachen sich aufbäumten, giftigen Schwefel spuckten und mit ihrem Feueratem alles verbrannten, was brennbar war. Nur wenige Menschen überlebten dieses Inferno.«
Die Kinder lauschten