Der Grüne Planet. Erik Simon

Der Grüne Planet - Erik Simon


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der Erdumlaufbahn in den Asteroidengürtel. Durch die Sprengung des Asteroiden Ceres erzeugte man die notwendigen Gravitationswellen, auf denen der Interphasenantrieb ritt.

      Ludmilla beobachtete den Start am Teleskop. Sie war zu alt gewesen, um einen der Plätze an Bord zu bekommen. Kolja, ihr Doktorand, hatte mehr Glück gehabt. Wahrscheinlich würde er seine Doktorarbeit nie fertig bekommen, aber seine Urenkel würden WAATO-2 betreten. Sie weinte, als sie den winzigen hellen Punkt auf dem Weg zur Ceres verfolgte.

      Die Explosion konnte man mit bloßem Auge verfolgen, zumindest außerhalb der Millionenstädte im Norden. Viele Menschen machten sich auf in die dunklen Außenbezirke, starrten in den Himmel und sahen die Nebelwolke, die sich wie ein Komet ausbreitete. Sie redeten sich ein, dass es ein Symbol der Hoffnung war, obwohl sie wussten, dass es zwanzig Jahre dauern würde, eine weitere Arche zu bauen, die einen winzigen Bruchteil der Menschheit evakuieren könnte.

      Obwohl Verkehr und Warenproduktion zusammengeschrumpft waren, hatte sich die Erdtemperatur weiter erhöht. Alljährlich im Sommer brannte die Tundra im Norden, brannte die Taiga, brannten Wälder rings um den Globus.

      Sie wussten nicht mehr, worauf sie hoffen sollten.

       7

      Unterwegs gab es keine Entscheidung zu treffen. Alle Entscheidungen waren gefällt worden, ehe die Svarog die Erdumlaufbahn verließ. Die Ressourcen waren nicht nur abstrakt endlich, sie konnten grammgenau angegeben werden. Wer an Bord gegangen war, der hatte sich auf ein durchorganisiertes Leben eingelassen, in dem jede Mahlzeit, jeder Liter Wasser, jede Tätigkeit und jedes Kind vorgeplant war.

      Es gab keine Möglichkeit, unterwegs nachzutanken. Es gab kein unbesiedeltes Deck, das man bevölkern konnte. Es gab keine Waffen, mit denen man hätte Dinge umverteilen können. Es gab, was Jahrzehnte und Jahrhunderte auf der Erde als Teufelswerk gegolten hatte: eine absolute Planwirtschaft, in der keiner verhungerte und keiner reich wurde und jeder in der gleichen winzigen Kajüte lebte.

      Sie kamen zurecht.

      Sie taten Dinge, die getan werden mussten.

      »Warum soll ich zwei Kinder bekommen?«, fragte Sigyn trotzig.

      »Wegen der genetischen Vielfalt«, erwiderte Olga, die Lehrerin.

      »Dafür würde auch ein Kind reichen.«

      »Damit würdest du nur die Hälfte deiner Erbanlagen weitergeben.«

      »Und?«

      »Und es gibt eine kritische Bevölkerungsgröße, unter der die Aufrechterhaltung der Zivilisation nicht möglich ist.«

      Es war eine alte Debatte, die an verschiedenen Orten des Generationenschiffes immer wieder in Varianten aufgeführt wurde.

      Später lag Sigyn mit Zora auf dem zu schmalen Bett ihrer Kajüte. Die Mädchen küssten einander, hielten einander fest und starrten an die Decke, die so grau war wie am Tag ihrer Herstellung. Sie verblich nicht, weil es kein Sonnenlicht gab, dass dem Plastikmaterial hätte gefährlich werden können.

      »Kannst du dir eine Sonne vorstellen?«, fragte Zora.

      Sigyn schüttelte neben ihr den Kopf. Zora spürte es mehr, als dass sie es sah.

      »Kannst du dir einen Wald vorstellen? Ich meine, wir haben Bäume. Ich sehe mir einen Baum an, und dann denke ich: Ein Wald sind zehnmal so viele. Und davon noch einmal zehnmal so viele. Mehr kann ich mir nicht vorstellen. Aber auf der Erde standen Millionen Bäume in einem einzigen Wald.«

      »Woher weißt du, dass es Wälder überhaupt jemals gegeben hat? Sie zeigen uns Bilder von Elefanten und Fledermäusen und behaupten, dass es sie auf der Erde gegeben hat. Sie zeigen uns Bilder von Einhörnern und Drachen und sagen, dass es nur Erfindungen waren. Wo ist der Unterschied?«

      Zora fuhr mit dem Zeigefinger über Sigyns sommersprossiges Gesicht.

      »Es sind unsere Eltern«, sagte sie leise.

      »Die es von unseren Großeltern wissen. Und unsere Großeltern haben einen Planeten mit richtigen Wäldern verlassen, nur um in einer Blechkiste zu leben. Unsere Enkel sollen es einmal besser haben und so. Ich habe nicht darum gebeten, in einer Blechkiste aufzuwachsen. So scheiße kann kein Planet sein, dass das besser wäre. Also was stimmt damit nicht?«

      Die Pubertät war an Bord der Svarog kein bisschen leichter als auf der Erde, im Gegenteil. Man konnte nirgends hin, man konnte nicht davonlaufen, man konnte kein anderes Leben führen als das seiner Eltern.

      »Ich will keine Kinder«, erklärte Sigyn. »Ich will nicht daran schuld sein, dass Kinder in diesem Schiff aufwachsen müssen und nie einen Wald sehen werden. Oder Schmetterlinge.«

      Fünf Jahre später war es Sigyn, die bei der Routineüberwachung des Raumes vor ihnen ein anderes Raumschiff entdeckte, das in Gegenrichtung unterwegs war. Es war das erste Mal, dass die Menschheit ein Zeichen fremder Intelligenz entdeckte. Aber es gelang ihnen nicht, mit den Fremden zu kommunizieren, obwohl sie das ganze Arsenal systematischer Kommunikationsanbahnung funkten.

      »Vielleicht«, sagte Sigyn zehn Jahre später zu ihrer Tochter Danica, »kennen sie keine Funkgeräte. Oder sie haben das mit dem Kälteschlaf hinbekommen und schliefen alle, als wir einander begegneten.«

      »Kälteschlaf?«, fragte Danica.

      »Auf der Erde soll es Tiere gegeben haben, die monatelang schliefen, wenn es kalt war. Es gab da Jahreszeiten. Manchmal war es warm, und manchmal war es kalt – kalt wie im Kühlschrank. Dann versteckten sich die Tiere und schliefen, bis es wieder wärmer war. Wenn wir so etwas könnten, dann könnten wir die Zeit des Fluges einfach verschlafen.«

      »Ich will nicht so lange schlafen. Ich finde Mittagsschlaf doof. Einen ganzen Monat schlafen wäre noch doofer.«

      Danica verstand nicht, dass das Leben an Bord sterbenslangweilig war, weil nie irgendetwas passierte. Nichts, was nicht tausendmal vorher passiert war und tausendmal danach passieren würde.

      Dreißig Jahre später diskutierten sie darüber, ob es zu rechtfertigen wäre, die knappen Ressourcen für ihre dementen Großeltern zu verschwenden, die ihre Kajüten nicht mehr allein und aus eigener Kraft verlassen konnten. Es gab keine Infektionen an Bord, keinen Alkohol, keine Drogen … Man brauchte kriminelle Energie, um trotz der optimierten Rationen ungesund zu leben. Die Menschen wurden älter als geplant.

      Sie hatten das Problem der Überbevölkerung in den Weltraum mitgenommen.

       8

      Kate war vierundachtzig Jahre und sechs Monate alt.

      WAATO war der hellste Stern in der Weite des Alls. Die Svarog bremste seit geraumer Zeit. Dreizehn Monate, sagten die Berechnungen, würde es noch dauern, bis sie sein System erreichten und in eine Umlaufbahn um den zweiten Planeten einschwenken würden.

      Seit ihre Urgroßmutter gestorben war – Kate war damals elf – wusste sie, dass sie die Ankunft auf dem Planeten nicht erleben würde. Seit dreiundsiebzig Jahren wusste sie, dass es für sie kein Ziel gab, dass sie es um wenig mehr als ein halbes Jahr verfehlen würde.

      Sie hatte Probleme mit dem rechten Bein, und manchmal vergaß sie Dinge, weil die Tage, Wochen, Monate und Jahre so unglaublich gleichförmig waren, so wie auch die unzähligen Kajüten fast völlig gleich waren. Man konnte sie nicht voneinander unterscheiden. In letzter Zeit war Kate gelegentlich in eine falsche Kajüte geraten, weil sie sich nicht an die Nummer erinnern konnte.

      Sie würde bei der Kolonisierung von WAATO-2 (oder war es doch -3?) keine Hilfe sein, sondern eine Last, und deshalb würde sie nie erfahren, wie der Himmel über einem Planeten aussah.

       9

      »Klasse M, ja?« Celestines Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was sie von der Einstufung des Planeten WAATO-3 hielt.

      »Ich verstehe das nicht«, sagte Vera. »Sie können nicht so danebengelegen haben.«

      »Mit vierzehn Prozent Sauerstoff kommen wir nicht aus. Nicht mal an den


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