GUARDIANS - Das Vermächtnis. Caledonia Fan
werten wir heute Abend aus. Jetzt denkt bitte nach: hat jemand auf ihn geachtet, nachdem ihr in die Halle gekommen seid? Ist euch irgendetwas anderes aufgefallen, das nach eurer Ankunft dort ungewöhnlich war? Konzentriert euch. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein."
Sie nahmen sich Zeit, um zu überlegen. Die Stille war drückend.
Während er geduldig wartete, musterte Tariq die jungen Leute der Reihe nach, bis sein Blick an dem Teenager hängenblieb, der gar nicht zu den Guardians gehörte und trotzdem der Grund für die Aufregung gestern Abend gewesen war.
"Yonas", unterbrach er das Schweigen, "hast du etwas bei ihm bemerkt, als er in die Halle kam? Ist irgendetwas vorgefallen in der Zeit, bevor ich auftauchte?"
Der Blondschopf mit den dunkelgrünen Augen schüttelte den Kopf. Es war ihm sichtlich unangenehm, so ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu werden und nicht umsonst hatte er einen Sitzplatz außerhalb des Kreises der schweren Ledermöbel gewählt. Er fühlte sich schuldig. Jetzt, nach dieser Hiobsbotschaft, umso mehr.
Auch er rief sich den gestrigen Abend noch einmal ins Gedächtnis. Ahmad war in die Halle gekommen und hatte fast sofort mit dem Mann, der oben auf der Treppe gestanden hatte, einen Kampf mit Energiegeschossen begonnen. Seine blauen und die schwarzen des Fremden waren durch die Luft gerauscht und krachend in die Wände geschlagen. Und Ahmad hatte sogar einen Schild aus Energie gebildet, um sich vor ihnen zu schützen. Doch der war nach ein paar Treffern zerplatzt.
Irgendwann hatte plötzlich dieser Doppelgänger von Ahmad dagestanden und ihn angegriffen.
Und dann war das geschehen, woran er selbst nur mit Unbehagen zurückdachte. Er hatte die Kontrolle über sich verloren ... Für eine Zeitspanne, von der er nicht genau wusste, was darin passierte und wie lange sie angedauert hatte. Als alles vorüber war, war er selbst einfach zu erschöpft gewesen, um auf irgendetwas zu achten, was um ihn herum geschah. Nur dass Ahmad zu ihm kam, daran erinnerte er sich.
Die anderen Guardians blickten ratlos zu Tariq.
"Er war bei Yonas, als ich hereinkam", brummte Hennak schulterzuckend, "es sah aus, als wolle er ihm beim Aufstehen helfen."
"Ja, er hat ihm auf die Schulter geklopft, das habe ich auch gesehen." Senad nickte bestätigend. "Und so ein seltsames gelbes Licht war da um die beiden. Aber was er danach getan hat ... keine Ahnung."
"Er ist die breite Treppe am anderen Ende der Halle hinaufgerannt", verkündete Koll, Senads Teamgefährte und mit sechzehn der jüngste Guardian. Der ruhige, fast wortkarge Junge aus Irland war dafür bekannt, dass er erst gründlich nachdachte und dann sprach.
"Also hat keiner von uns wirklich auf ihn geachtet. Wir haben unseren Leader im Stich gelassen." Tiana fasste ihrer aller Gedanken zusammen, indem sie das beschämt feststellte.
"Aber es war doch alles wie immer." Hennaks Stimme klang trotzig. "Er fährt nie mit uns zurück. Manchmal sucht er noch nach irgendwelchen Hinweisen, manchmal räumt er nur hinter uns auf oder beseitigt Spuren, die zu uns führen könnten. Und wenn er damit fertig ist, dann ruft er den Chef an, um Bescheid zu geben, dass er alles erledigt hat. Wie hätten wir ahnen sollen, dass diesmal irgendetwas anders war? Ihm war nichts anzumerken." Er ärgerte sich, dass er nicht Zorn, sondern unerklärlicherweise eher Mitgefühl für den schwarzen Guardian empfand, obwohl er ihn nicht mochte. "Und selbst wenn er verletzt war - keiner von uns hätte sich da doch ernsthaft Gedanken gemacht", fügte er noch hinzu. "Wir wissen alle, wozu er fähig ist."
"Das stimmt. Deshalb ist es ungewöhnlich, dass sein Gegner ihn so ernsthaft verletzen konnte." Tariq schüttelte den Kopf.
"Wer war denn sein Gegner? Mato Rayan selbst? Oder war außer diesem noch jemand in der Halle?" Es war das erste Mal, dass Rheas Teampartner Nakoa sich zu Wort meldete.
Richtig, rief sich Tariq ins Gedächtnis. Die Guardians hatten nicht nur Rayan, sondern auch den anderen gar nicht zu Gesicht bekommen. Als sie in der Halle auftauchten, waren beide schon verschwunden. Also hatten nur er selbst und Yonas ausreichend Zeit gehabt, ihn zu sehen.
"Ja, es war noch einer dort."
"Kannte Ahmad ihn?", fragte Sadik.
"Hundertprozentig." Tariq war sich sicher. Als er selbst in die Halle getreten war, hatte der schwarze Guardian sein Gegenüber angestarrt wie das Kaninchen die Schlange. Kein Wunder, dachte er bitter, nach so langer Zeit ist das wahrhaft kein Wunder ...
"Es war sein Bruder."
Yonas' leiser Einwurf schlug ein wie eine Bombe.
"Sein Bruder?"
"Er hat einen Bruder?"
"Was sagst du da?"
"Woher weißt du das?"
Alle redeten plötzlich durcheinander und bestürmten ihn mit Fragen.
Der Junge runzelte einen Moment grübelnd die Stirn. Es war alles so schnell gegangen.
"Er heißt La... La'ith. Ahmad und er scheinen sich etliche Jahre nicht gesehen zu haben, denn er sagte zu Ahmad: 'Es ist lange her, Bruder, sehr lange'. Dann hat er Ahmad angegriffen, aber er hat ihn nicht verletzt, sondern nur das Messer aus der Hand geschlagen. Ich habe dann nicht mehr alles so genau mitgekriegt. Keine Ahnung, was mit mir los war. Ich wollte nur, dass alle aufhören zu kämpfen, dass nicht noch mehr verletzt werden, keiner von euch. Und da brach etwas aus mir heraus und es breitete sich aus, so ... eine Art Sturm … und ich konnte es nicht unterdrücken."
Einen Moment atmete er tief durch, als er an das unerklärliche Ereignis zurückdachte. "Ich war vollkommen fix und fertig. Und dann seid ihr ja alle hereingekommen."
Neue Fragen sprudelten hervor.
Yonas versuchte zu erklären was er gemeint hatte mit seiner Äußerung, dass etwas aus ihm herausgebrochen sei. Er war selbst verblüfft über das Phänomen, das er da hervorgebracht hatte.
Tariq gewährte den Guardians noch eine kurze Weile, dann sah er auf die Uhr. Es war schon nach acht.
"Wir beenden das jetzt erst einmal an der Stelle. Ihr müsst zur Schule, Imara und Tamira warten sicher schon mit den Autos. Vorsichtshalber wird euer Ausbilder euch heute begleiten", hier nickte er Sadik zu, "obwohl ich denke, dass Rayan nach der gestrigen Aktion erstmal gründlich darüber nachdenken dürfte, ob er einen neuen Versuch startet, sich mit mir anzulegen. Denkt daran, heute Abend nach dem Essen Auswertung. Also dann." Er stand auf, nickte ihnen zu und verließ den Raum.
Wieder in seinem Arbeitszimmer angekommen, lehnte er sich kurz mit dem Rücken an die gerade zugeklappte Tür und schloss die Augen.
Es war sein Bruder, hatte Yonas gesagt.
La'ith.
Der Bruder, den Ahmad damals zurückgelassen hatte.
Mittwoch, 11:00 Uhr
Schmerzen ...
Sie waren vertraut und gehörten zu seinem Dasein, solange er zurückdachte. Er konnte sonst mit ihnen umgehen, wusste sie zu nehmen und sich ihnen anzupassen.
Doch diesmal wurde er von ihnen überrollt, noch bevor sich sein Verstand ganz ins Wachsein gekämpft hatte. Sie nahmen ihm buchstäblich die Luft. Wie ein glühendes Messer stachen sie bei jedem einzelnen Atemzug in seine linke Brustseite. Er versuchte flacher zu atmen, konnte es aber nicht lange durchhalten. Seine Lunge schrie schon nach wenigen Sekunden nach mehr Sauerstoff. Ihm war heiß, unerträglich heiß, und gleichzeitig fror er, dass er zitterte. Kalter Schweiß rann über seine Schläfen und er hatte Kopfschmerzen, die im Rhythmus seines Herzschlages in der linken Schläfe hämmerten.
Verzweifelt bemühte er sich seine Augen zu öffnen, doch die Lider waren schwer wie Blei. Aber nicht nur sie, sein ganzer Körper gehorchte ihm nicht. Die Arme lagen wie festgeschmiedet, der rechte auf seinem Bauch, der linke an seiner Seite. Schon der Gedanke, sie zu bewegen, verursachte Pein. Seine rechte Schulter schien in glühendes Eisen gehüllt.
Eine große Hand legte sich behutsam auf seine linke Hand. "Ruhig, ganz ruhig", hörte er eine