GUARDIANS - Das Vermächtnis. Caledonia Fan
ruhiger er wurde, desto besser konnte er sich konzentrieren, um den Nebel, der sein Denken umhüllte, zu durchdringen. Jetzt begann er auch seine Umwelt wahrzunehmen und seine tastenden Finger erspürten, dass er auf einer weichen Unterlage lag.
Wieso fiel es ihm so schwer, sich zu orientieren?
Etwas Kühles wurde auf seine Stirn gelegt und wieder war da diese Stimme, eine tiefe Stimme, die zu ihm sprach.
"Nicht bewegen, Ahmad. Bleib ganz ruhig liegen. Es ist alles gut, du bist in Sicherheit."
Tanyel.
Ja, es war Tanyel, der mit ihm sprach. Die unverwechselbar große, warme Hand, die sich erneut behutsam auf seine Linke legte, gehörte ihm.
Es erleichterte und beruhigte ihn ungemein, den Steward in der Nähe zu wissen.
Noch immer zu kraftlos, um die Augen zu öffnen, beschränkte er sich auf das Hören. Regelmäßiges Piepsen drang an seine Ohren und seine eigenen flachen, stoßweisen Atemzüge. Etwas weiter entfernt das Schließgeräusch einer Schublade, das Klappen einer Schranktür. Glas klirrte und für einen Moment rauschte Wasser. Tanyel ist noch in der Nähe, schloss er aus den Geräuschen.
Mit Mühe versuchte er, sich zu orientieren. Was war bloß los mit ihm? Seine Gedanken waren zäh wie Kleister. Erinnerungsfetzen tauchten in seinem Geist auf, doch es war anstrengend, sich zu konzentrieren. Lichtblitze, Einschläge, Kampfszenen ... Das Schloss, richtig. Sie waren dort gewesen, um Yonas zurückzuholen.
Den Jungen hatten sie befreien können, nur für ihn selbst war irgendetwas mächtig schiefgegangen. Yonas' Vater hatte also recht gehabt mit seiner Vermutung, dass ein Kontakt mit dem Jungen seinem Körper schaden würde. Diese kurze Berührung hatte etwas in ihm verändert, ihn geschwächt.
Mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Heller Tag, registrierte er. Als er das Schloss verließ, hatte gerade erst die Nacht begonnen. Stunden waren seitdem vergangen. Trotzdem fühlte er sich noch immer genauso zerschlagen wie am Abend. Schmerzen, Schwäche … Es hätte ihm längst bessergehen müssen.
Verzweifelt versuchte er, die zurückliegenden Ereignisse zu rekapitulieren. Schon beim Lesen des Zettels auf dem blauen Schulrucksack war ihm klargeworden, auf wessen Konto diese Entführung ging. Die Symbole, die anstelle einer Unterschrift unter den wenigen Worten prangten, kannte er zu gut. Elyssa. Unfassbar, dass es Elyssa gelungen war, ihren Plan in die Tat umzusetzen, obwohl er von ihr gewarnt worden war.
Dann diese Begegnung in der Halle mit dem Mann, der seine, nein, der ihre Kindheit zerstört hatte ... Sein Entsetzen bei dem Wiedersehen, das ihn völlig lähmte, obwohl er damit gerechnet hatte, dass dieser Mensch auftauchen würde.
Einen Augenblick lang war ihm seine Ruhe abhandengekommen. Er wusste nur eines: er würde nicht zu ihm zurückkehren, das war ihm nie klarer gewesen, und sein Angriff erfolgte ohne jegliche Vorwarnung.
Rayans Antwort kam sofort. Die schwarzen Energiegeschosse waren schnell, präzise und gefährlich gewesen wie seine eigenen. Eines von ihnen hatte ihm seinen Energieschild zerschmettert. Er erinnerte sich an den scharfen Schmerz, als sich ein greller Blitz davon buchstäblich in seine Schulter grub. Die Wucht des Treffers hatte ihn nach hinten geschleudert. Sein Kopf war so heftig gegen die Mauer geknallt, dass er Sterne sah, und beim Aufprall der bereits verletzten Schulter hatte es hörbar darin geknirscht.
Und dann war plötzlich La'ith da gewesen ...
Er hatte ihn angestarrt, als wäre er ein Gespenst, während seine Gedanken rasten und er sich von dem Schock zu erholen versuchte. Einen verrückten Moment lang wollte er ihn umarmen in seiner überschwänglichen Freude, ihn zu sehen. Doch das Gesicht vor ihm, das dem Seinen so verblüffend glich, war vor Hass verzerrt und mit Schrecken sah er, dass La'ith seine Waffe zog.
Er hörte, wie sein Bruder mit Rayan sprach. Und aus seinen Worten wurde ihm schmerzlich bewusst, dass sie nicht auf derselben Seite standen. La'ith war der Feind. Er hatte zu lange warten müssen. Es war zu spät ...
Dann war mit einem Mal Tariq aufgetaucht und hatte Rayans Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und im selben Augenblick, in dem die beiden begonnen hatten einander mit Energiegeschossen ...
Jetzt riss er in jähem Begreifen die Augen auf.
Tariq!
Der Chef hatte Energiegeschosse verwendet und einen Schild gebildet! Er war also auch ein Wandler!
Das hatte er nicht gewusst. Einen Moment lang entglitt ihm der Faden. Die Kopfschmerzen setzten ihm zu. Denk nach, mahnte er sich, was ist dann geschehen?
Er hatte sich ablenken lassen durch die beiden Männer. Für einen winzigen Moment nur und beinahe wäre es ihm deshalb nicht möglich gewesen, den Angriff seines Bruders zu parieren. Doch nicht nur die Ablenkung war schuld daran ... es war auch, weil er nicht wirklich damit gerechnet hatte, dass La'ith ihn attackieren würde.
Er wollte nach seiner Waffe greifen und spürte erst da den brennenden Schmerz in der Schulter. Zähneknirschend hatte er den Dolch mit der Linken herausgerissen. Schon nach ein, zwei halbherzigen Abwehrversuchen wurde er ihm aus der kraftlosen Hand geschlagen und landete klappernd auf dem Steinboden. Eine schwache Leistung ...
Wehrlos und schwer atmend hatte er vor seinem Ebenbild gestanden. La'ith hätte die Sache sofort beenden können. Aber der hatte ihn lediglich angestarrt, sekundenlang, wie hypnotisiert, bis zu dem Augenblick, in dem er auf den Warnruf des Meisters hin plötzlich wegrannte und diese starke Energie spürbar wurde ...
Yonas.
Es war also tatsächlich geschehen. Das in dem Jungen schlummernde Geheimnis hatte gestern Abend sein Gefängnis gesprengt. Nach fast sechzehn Jahren hatte das Warten endlich ein Ende.
Er lauschte in sich hinein, versuchte zu analysieren, was er fühlte bei dieser Erkenntnis. Und er fand neben der Erleichterung darüber eine bohrende Angst, dass es wieder geschehen würde.
Mittwoch, 11:25 Uhr
"Trajan?"
Ihm fiel der Stift aus der Hand, so sehr war er verblüfft über die leise Stimme in seinem Kopf. Doch er erkannte sie sofort. Ahmad war endlich aufgewacht.
Betroffen realisierte der blaue Guardian, dass die telepathische Fähigkeit des Kameraden seine eigene um ein Vielfaches übertraf. Bei seiner im Vergleich dazu kümmerlichen Reichweite war ihm sofort klar, dass seine Antwort den Absender nicht erreichen konnte.
"Bist du in der Nähe? Kannst du zu mir kommen?"
Er zögerte nur eine Sekunde, dann stand er so plötzlich auf, dass sein Stuhl umkippte. Die Mitschüler reckten grinsend die Hälse. Einige Mädchen kicherten, während sein Lehrer ihn missbilligend und stirnrunzelnd ansah.
Hennak, der vor ihm saß, drehte sich verwundert um. "Was ist los?", fragte der Freund alarmiert, als er seinen angespannten Gesichtsausdruck bemerkte. "Einsatz?"
Er schüttelte nur den Kopf, dann raffte er hastig seine Sachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack. "Ahmad will irgendwas von mir, ich muss weg", gab er leise zurück, nickte Hennak zu und griff nach seiner Jacke.
Grußlos ging er mit schnellen Schritten am verblüfften Lehrer vorbei und erreichte die Tür, bevor dieser etwas sagen konnte. Dort drehte er sich noch einmal kurz um, murmelte ein hastiges "Entschuldigen Sie" und verließ das Klassenzimmer.
Draußen zog er das Handy aus der Tasche und wählte Imaras Nummer, während er durch den menschenleeren Korridor in Richtung Ausgang eilte.
Imara, eine große, schlanke Frau von siebenunddreißig Jahren, war die technische Leiterin von Darach Manor. Ihr unterstand unter anderem der gesamte Fuhrpark mit seinen immerhin acht Fahrzeugen. Es gehörte zu ihren Aufgaben, gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Tamira die Schüler zur Schule in die Stadt zu fahren und auch dort wieder abzuholen. Diese Fahrten waren sorgfältig organisiert und gerade jetzt war sie mehr als verwundert über diese Tour außerhalb des Plans.
Eine Viertelstunde später