GUARDIANS - Das Vermächtnis. Caledonia Fan
die Verletzung nicht vergessen, die Ahmad damals davongetragen hatte.
"Ich wusste, womit sie dir gedroht hat." Trajan sah unsicher zum Bett und biss sich auf die Unterlippe. "Und gestern, da hat sie ihre Ankündigung wahrgemacht, stimmt's? Sie hat Yonas entführt. Er war der Junge, den sie sich holen wollte. Und damit hat sie den besten Köder gewählt, das einzige Mittel, was dich dazu bringen konnte, ihrer Forderung nachzukommen. Wusstest du, von wem die Notiz mit Yonas' Aufenthaltsort war und dass du sie dort wiedersehen würdest?"
Es blieb still.
Trajan stand auf und trat an das verspiegelte Fenster. Er lächelte bitter.
"Du konntest Yonas nicht im Stich lassen. Und du wärst sogar allein da reingegangen, wenn Tariq uns nicht hinterhergeschickt hätte. Wahrscheinlich hättest du sie wohin auch immer begleitet, wenn Yonas dafür unbehelligt freigekommen wäre. Ja", meinte er jetzt mit entschiedenem Nicken, "ich glaube, das hättest du getan."
In der Spiegelung des Fensters konnte er das Bett sehen.
"Ich denke, du wusstest genau, was dich erwartet. Du hast dieses Mädchen gekannt, das wurde mir bereits klar, als ich damals euer Gespräch mithörte. Ich wüsste gern, wohin sie dich zurückholen wollte, oder sollte? Wo warst du, bevor du zu uns kamst? In diesem Schloss? Woher hast du diese furchtbaren Narben?"
Wieder kam keine Antwort.
Aber Trajan hatte auch nicht damit gerechnet. Er starrte hinaus in die pechschwarze Nacht und seufzte. So viele Fragen. Je länger er nachdachte, desto mehr Rätsel taten sich auf und desto mehr Zusammenhänge schien es zu geben. Aber ihm fehlten die Fäden, um alles zu verknüpfen.
Ob Ahmad ihn hörte und nur nicht antworten konnte? Diese Welt zwischen Wachsein und ewigem Schlaf, zwischen Leben und Tod kannte er. Auch er hatte manchmal Stimmen gehört, die ein vertrautes Gefühl in ihm geweckt hatten. Doch er war zu weit weg gewesen. Ob es Ahmad ebenso ging? Vielleicht. Bestimmt sogar. Und deshalb würde er auch nicht damit aufhören, sich zu bemühen den Teamkameraden von dort zurückzurufen.
Die Tür vom Behandlungsraum öffnete sich. Trajan hörte Schritte und kurz darauf stand Issam am Bett. "War etwas?", fragte er.
"Alles ruhig." Trajan kam vom Fenster herüber. Eine Weile standen sie wortlos nebeneinander. Keiner der beiden hatte etwas zu sagen und doch war das Schweigen nicht unangenehm.
"Ich werde wieder zu Bett gehen", murmelte der Guardian schließlich und nickte Issam zu.
"Hm? Ja, natürlich, geh schlafen. Gute Nacht, Trajan, und danke fürs Aufpassen."
Der Arzt sah ihm nach, bis sich die Tür hinter dem jungen Mann geschlossen hatte. Dann kontrollierte er noch einmal die Werte am Monitor. Nicht alle Zahlen waren grün. Doch die wenigen roten zeigten nichts Bedrohliches. Es sah gut aus. Momentan.
Mittwoch, 07:00 Uhr
Als der Hausherr am Morgen erwachte, überfiel ihn sofort die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er setzte sich auf und schaute auf die Uhr.
Es war sieben. Ihm entfuhr ein ärgerliches Knurren, denn eigentlich wollte er eher aufstehen. Doch trotz des aufregenden Abends hatte er traumlos bis jetzt durchgeschlafen.
Barfuß ging er zum Fenster und sah eine Weile hinaus in den nebligen Aprilmorgen. Dass die Blutkonserven angekommen waren und dass Ahmad die Nacht überstanden hatte bezweifelte er nicht, sonst hätte Issam ihn geweckt.
Ahmad. Verdammt. Sein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken, in die Klinik hinunterzugehen, und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sich davor fürchtete.
Seufzend rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, während er ins Badezimmer schlurfte. Die Hände auf das Waschbecken gestützt und seine müden Augen im Spiegel musternd versuchte er sich zu erinnern, ob gestern irgendetwas an dem schwarzen Guardian anders gewesen war. Konzentriert schloss er die Augen und rief sich die Szene in Erinnerung. Er sah Ahmad, wie er an der Wand lehnte und sein Ebenbild anstarrte, das ihm gegenüberstand und mit der Waffe in Schach hielt. Und wie er dann neben Yonas in der Mitte dieses seltsamen Energiewirbels kniete. Er war einfach hineingegangen. Und dann? Ahmad hatte keine Energie angewendet, weder Blitze noch blaue Geschosse, nichts. Er hatte einfach gar nichts getan.
Tariq hieb frustriert mit der Faust auf den Waschbeckenrand. Er wusste, dass er etwas übersah, aber er kam nicht darauf, was es war. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt.
Mit einem erneuten Seufzen zog er sich an, um hinunter zu gehen.
In der Klinik fand er nur seinen Steward vor. Der Arzt war nicht da.
"Wie geht's ihm?", fragte er mit leiser Stimme.
Tanyel, der gerade den Behandlungstisch reinigte, hielt inne und richtete sich auf.
"Nicht gut", antwortete er und warf einen schnellen Blick zum gelben Zimmer. "Dunkelgrau. Vielleicht noch eine Spur dunkler als gestern Abend."
Tariq konnte die Botschaft verstehen. Wie alle anderen wusste er um die besondere Fähigkeit seines Stewards. Nach Dunkelgrau kam Schwarz.
Er erinnerte sich noch gut an diesen furchtbaren Tag und daran, wie verstört Tanyel danach gewesen war. Der Tag, an dem er das erste und bis heute einzige Mal Schwarz bei einem Menschen sehen musste: als er Orell auf seine Arme gehoben und versucht hatte, ihn schnellstmöglich zum Auto zu tragen, um ihn nach Darach Manor zu Issam bringen zu können. Und als er merken musste, dass es zu spät war.
Plötzlich war er stehengeblieben, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Dann hatten seine Beine nachgegeben und nachdem er mitten auf der Straße auf die Knie gefallen war, hatte er den Achtzehnjährigen ganz behutsam an seine Brust gedrückt, als fürchtete er ihm wehzutun. Tariq und die anderen hatten gesehen, wie sich seine Lippen dabei bewegten, aber niemand konnte verstehen, was er dem toten Guardian in seinen Armen zuflüsterte, während er sein Gesicht in dessen Haaren vergrub.
Trajan hatte nicht weit entfernt von Orell gelegen, reglos, als wäre auch er tot. Ahmad war damals als erster bei ihm gewesen. Mit einem einzigen kräftigen Ruck hatte er Trajan das T-Shirt entzweigerissen und dann auf die stark blutende Wunde am Kopf gepresst. Man hatte sehen können, dass er dabei auf den Bewusstlosen eingeredet hatte. Mit der anderen Hand auf Trajans Schulter war er an dessen Seite geblieben, bis Imara, die Fahrerin, das Auto so nahe wie möglich herangebracht hatte. Dann hatte er ihn mit Shujaa zusammen aufgehoben und vorsichtig auf den Rücksitz gebettet. Imara war freiwillig auf die Rückbank gewechselt, ohne dass er etwas hätte sagen müssen. Ein Blick von ihm war ausreichend gewesen.
Tariq hatte ihr über diese Fahrt zurück nach Darach Manor kein Wort entlocken können, aber dank Ahmad war Trajan damals rechtzeitig bei Issam angekommen und gerettet worden.
Ironie des Schicksals? Gestern Abend hatte sich Trajan endlich bei ihm revanchieren können, indem er aufgrund seiner besonderen Fähigkeit der Einzige war, der seinen Ruf hören und für Hilfe sorgen konnte.
"Das Blut für Ahmad ist gekommen?" Er warf einen Blick zum Bett und sah den roten Beutel an einem Haken daneben hängen.
"Alles in Ordnung, die Transfusion läuft schon."
Erleichtert nickte er. "Wo ist Issam?", fragte er jetzt und schaute sich suchend um.
"Er war den Rest der Nacht hier. Vor einer Stunde habe ich ihn abgelöst. Ich hoffe, er kann ein bisschen schlafen, aber wie ich ihn kenne, ist er spätestens um neun wieder hier. Ahmad hat während der Nacht Fieber bekommen und die Kopfverletzung bereitet dem Doc auch Sorge."
"Koma?"
"Issam ist sich nicht sicher. Aber wenn der Junge nicht bald aufwacht, wird es wohl so sein", seufzte er und machte sich wieder an die Reinigung des Tisches.
Eine Weile herrschte Stille.
Tariq merkte, dass die Situation Tanyel zu schaffen machte. Orells Tod hatte damals wohl doch eine tiefere Wunde hinterlassen, als er vermutet hatte, und Tanyel befürchtete wohl auch Ahmad zu verlieren. Die Vorstellung, wieder hilflos mit ansehen zu müssen, wie einer