Silvia - Folge 1. Jürgen Bruno Greulich
der die Fantasie mit der Wirklichkeit verwechselte. Sie hob das Glas und stieß mit Wolfgang an. „Claudia ist wirklich dort in diesem Schloss?“
„Ja. Du kannst es ruhig glauben.“
„Hm. Was geschieht in diesem Schloss mit den Frauen, die man dort Mädchen nennt?“
„Genaues weiß ich nicht. Darüber schweigt sich Wohlgemach aus. Ich glaube, er weiß es selbst nicht so ganz genau.“
„Er weiß es nicht?“
„Nicht im Detail. Aber jedenfalls geschieht ihnen nichts wirklich Schlimmes. Sie kommen alle wohlbehalten zurück.“
Klang das beruhigend, nichts wirklich Schlimmes? Was war wirklich schlimm und was nicht, wer setzte die Maßstäbe? Auch der Herr der O hätte behauptet, dass ihr nichts Schlimmes geschehe, und auch sie war wohlbehalten, jedenfalls dann, wenn man den Schmerz und die Demütigung ausklammerte, die sie jeden Tag erlebte. Doch litt sie nicht wirklich, diese O, wurde als zufrieden und ausgeglichen geschildert, glücklicher denn je zuvor. Silvias Blick schweifte hinüber zur Kunsthandlung, in deren Schaufenster ein großes Gemälde hing, eine etwas kitschige südliche Landschaft mit Lavendelfeldern und Olivenbäumen, im Hintergrund sanfte Hügel mit einer Burg aus hellem Stein, vielleicht ein Schloss.
„Wollen wir nach Hause fahren?“ Samten sprach Wolfgang die Worte aus, sein Blick war ein Versprechen.
Zu Hause angekommen, nahmen sie beide noch eine schnelle Dusche und Silvia ging zu Bett. Lange musste sie nicht auf Wolfgang warten. Wohlduftend kroch er unter die Decke und streifte ihr den Pyjama ab, den sie vorsichtshalber angezogen hatte, um nicht wieder in den Verdacht zu geraten, ihm hinterherzulaufen wie ein rolliges Kätzchen. Aber nein, heute gab es keine Missstimmung, heute gab es Harmonie, Zärtlichkeit, feurige Leidenschaft, heute war es so schön in Wolfgangs Armen wie schon lange nicht mehr. Selig erschöpft lagen sie danach eng aneinandergeschmiegt unter der Decke und er schlief nicht gleich ein, wie sonst üblich, sondern streichelte ihr Haar.
„Es war schön, Silvia.“
„Und ich dachte, dass dich Blümchensex nicht mehr reizt?“
„Ach Silvia, ich liebe dich, und das ist wichtiger als Sex.“ Ach, das waren ja ganz unbekannte Worte. Sollte Wolfgang etwa das Interesse an seinem Plan mit ihr verloren haben und würde sie das vielleicht sogar ein ganz klein bisschen enttäuschen? Der Schmelz eines besorgten Therapeuten lag plötzlich in seiner Stimme. „Doch ist es so, dass die Liebe leidet ohne Sex und dass es Vorstellungen gibt, die dem Sex und damit der Liebe neue Kraft geben können.“ Das war nun wieder der Wolfgang, den sie kannte, der von einem Ziel nicht so leicht abrückte und es notfalls auf verschiedenen Wegen zu erreichen versuchte.
Zärtlich glitten ihre Lippen über seinen Hals. „Ist dir dieses Schloss denn wirklich so wichtig?“
„Es wäre für uns beide gut. Fällt es dir denn wirklich so schwer, Ja zu sagen?“
„Ja!“
Wie elektrisiert wandte er ihr das Gesicht zu. „Was bedeutet dieses Ja? Bedeutet es, dass es dir so schwerfällt, oder bedeutet es Ja?“
„Beides.“
„Du bist einverstanden?“
„Ja. Ich bin einverstanden.“
„Abgemacht? Ohne Widerruf?“
„Abgemacht. Oder willst du einen Vertrag aufsetzen?“
„Keine Juristen. Dein Wort genügt.“ Er drückte sie glücklich an sich und seine Hand schob sich zwischen ihre Beine.
Ohne Widerruf! Silvia wurde bang zumute. War sie denn verrückt, sich auf so etwas einzulassen? Die Bedenken schwanden unter seiner zärtlichen Hand und seinen Lippen, die ihre erwartungsvoll festen Brüste liebkosten. Schon lange war es her, dass er sie ein zweites Mal genommen hatte, vielleicht war es ja wirklich gut, dem Sex und damit der Liebe neue Kraft zu geben durch etwas Außergewöhnliches, auch wenn sie davon so gut wie nichts wusste. Glücklich stöhnte sie auf, da er in sie kam und sie schmelzen ließ in wonnigen Gefühlen …
***
Kaum konnte sie Wolfgang entdecken, als er am Montagabend von der Arbeit kam, so groß war der Blumenstrauß vor seinem Gesicht. Es war ein Strauß fröhlich leuchtender Sommerblumen, von frischem Grün umkränzt und mit roten Rosen durchsetzt.
„Vielleicht müssen wir bald einige neue Vasen kaufen“, sagte sie erfreut.
Wolfgangs Lächeln reichte von einem Ohr bis zum andern. „Ja, aber wirklich bald. Viel Zeit ist nämlich nicht mehr dafür.“
„Was soll das bedeuten?“
„Ich habe angerufen. Am Sonntag ist es so weit.“
„Am Sonntag?“ Beklommen trug sie die Blumen in die Küche, von Wolfgang gefolgt. Dahin war die Hoffnung, erst am Sankt-Nimmerleinstag-Tag wieder an ihre Zusage erinnert zu werden. Es herrschte ein atemberaubendes Tempo. „Da kann ich ja bald mit Packen anfangen.“
„Du musst nicht packen.“
„Wieso nicht? Mein Aufenthalt dauert doch vermutlich länger als einen Tag, wie ich fürchte.“
„Allerdings.“
„Wie lange denn?“
Er hob den Blick unschuldig zur Decke. „Drei Monate.“
„Wie bitte?“
„Drei Monate sind schnell vorbei, du wirst sehen.“
„Drei Monate sind eine Ewigkeit. Du wirst verhungern und die ganze Zeit wie ein Heiliger leben müssen …“ Sie unterbrach sich, schaute in seine glitzernd braunen Augen. „Also gut, du wirst dir zu helfen wissen und nicht verhungern und vermutlich auch nicht wie ein Heiliger leben. – Drei Monate, hoffentlich werde ich dich danach noch erkennen.“
„Ich besuche dich hin und wieder.“
„Aber ich kann doch nicht einfach für drei Monate verschwinden! Wie soll ich meinen Eltern meinen Verbleib erklären und deinen Eltern, den Verwandten, meinen Freundinnen?“
„Du fährst in Urlaub, ganz einfach.“
„Aber doch nicht drei Monate lang! Niemand macht so lange Urlaub.“
„Manche schon. Die Gattin des Herrn Wohlgemach zum Beispiel und du jetzt auch. Frauen eben, die es sich leisten können.“
„Ja, aber … aus dem Urlaub schreibt man Briefe und Postkarten, man lässt etwas von sich hören.“
„Sicher. Du schreibst Briefe und Postkarten aus deinem Urlaub, was sonst?“
„Diese Briefe und Postkarten sind aber mit Briefmarken und Stempeln aus dem Urlaubsland versehen!“
„Briefmarken kann man besorgen, Stempel anfertigen und die Briefe und Postkarten bei entsprechender Beziehung zur Post in den normalen Verteilerdienst bringen. Es ist für alles gesorgt, du musst dir nur noch überlegen, in welches Land du zu reisen gedenkst.“
„Woher weißt du das alles?“
„Von der Madame von Sinnenhof.“
„Hm. Und von ihr weißt du auch, dass ich nicht packen muss?“
„Genau. Es ist alles vorhanden, was du brauchst.“
„Und woher weiß diese Madame von Sinnenhof so genau, was ich brauche?“
„Na ja, sie kennt sich halt aus.“
„Ich muss verrückt sein, mich darauf einzulassen.“
„Ach, woher denn. Du bist nicht verrückt, ganz im Gegenteil. Denn immerhin liebe ich dich. Und das ist der Beweis, dass du in Ordnung sein musst.“ Er streichelte zärtlich über ihr Haar und schaute sie liebevoll an. „Eines aber gibt es noch zu tun.“
„Was denn?“
„Ich