Silvia - Folge 1. Jürgen Bruno Greulich
ja, alle.“
Ohne Widerruf! – Warum nur, fragte sie sich, war sie bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen? Weshalb begehrte sie nicht auf? Gab es etwa ganz insgeheim eine Anziehungskraft des ominösen Abenteuers, von dem sie nichts Konkretes wusste, nur ahnte, das vermutlich anders war als alles Bekannte, sündhaft, bedrohlich, eigentlich unannehmbar und doch unbegreiflich reizvoll?
Sinnierend schaute Wolfgang sie an. Worauf wartete er? „Es geht so nicht, wenn du angezogen bist.“
„Oh. Ich soll mich ausziehen?“
Wolfgang nickte und sie entledigte sich zögernd ihrer Kleidung vor seinen Augen, fast war es so, als stünde sie einem Fremden gegenüber, und wieder war es zu spüren, das heimliche warme Kribbeln im Bauch oder noch ein bisschen weiter unten. Nur den roten kleinen String behielt sie an. Ganz eindeutig war Wolfgang ein typischer Mann, denn das Erste, das er maß, war ihre Brustweite. Er notierte das Ergebnis fein säuberlich auf einem bereitgelegten Blatt und sie bekam ein Kompliment für ihre vollen festen Brüste, die jedem Vergleich standhalten konnten, wie er meinte, und das ganz ohne die Hilfe von Silikon. Zärtlich berührten seine Lippen die steifen Knospen. Dann aber musste er seine Arbeit fortsetzen und sie spürte, wie sich ihr Körper den warmen Händen entgegenschmiegte, als sie das Band um die Taille und den Hintern legten. Auch diese Werte wurden notiert. Wozu aber brauchte er ihre Halsweite, sollte sie vielleicht ein Hemd tragen dort in diesem Schloss?
Wolfgangs Auskunft geriet sehr einsilbig. „Weiß nicht.“ Auch den Umfang der Handgelenke musste er messen. Zögernd streckte sie den rechten Arm aus und bangen Herzens hielt sie still. Wozu das? Und wieso ging er gar noch vor ihr auf die Knie, um das Band um ihr Fußgelenk zu legen? Wieder war Wolfgangs Antwort sehr knapp gehalten: „Es muss halt alles passen.“
„Was ist dieses alles?“
„Das kann ich dir so genau nicht sagen. Sie will es halt wissen, die Madame von Sinnenhof. Sie wird schon ihre Gründe haben.“
Er richtete sich auf, nahm sie in den Arm und küsste ihren Mund, war sehr zufrieden mit ihr. „Den Ring kannst du jetzt ja annehmen. Du hast ihn verdient.“
„Nein, kann ich nicht.“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich es nicht wegen dem Ring tue, sondern dir zuliebe.“
„Irgendwie hast du das Zeug zur Heiligen.“ Das aber konnte nicht ernst gemeint sein.
Ihr Weg führte nach der anregenden Vermessungsarbeit ins Bett, wo Silvia auf sehr angenehme Gedanken kam, ihre Bedenken, die Sorgen und schließlich die ganze Welt vergaß in Wolfgangs Armen, während in der Küche das Essen kalt wurde. Das aber war heute kein Problem. Vielleicht, so dachte sie sonnig, als Wolfgang erschöpft neben ihr lag, vielleicht würde der Aufenthalt in diesem merkwürdigen Schloss ihrer Ehe ja tatsächlich guttun …
Gespräch mit der Herrin
Um ein Haar hätte sich Silvia am Wochenende erleichtert gefühlt beim Gedanken daran, dass sie keinen Speiseplan für nächste Woche erstellen musste, keine Einkäufe zu erledigen hatte und das lästige Putzen der Wohnung entfiel. Es würde die alltäglichen Mühen und Sorgen nicht geben, sie musste keinen Gedanken an die Planung des Tages verschwenden und sich mit keiner Bekannten verabreden, um im Kino, im Theater oder in einem Café ein bisschen Zerstreuung zu finden. Um das, was zu geschehen hatte, würden sich andere kümmern.
Genau dieser Gedanke aber ließ die Erleichterung schwinden und bange Bedenken das Haupt erheben. Was stand ihr eigentlich bevor? Sie wusste es noch immer nicht, erhielt von Wolfgang keine Auskunft, er hütete das Geheimnis eisern wie die Formel eines neuen Medikaments oder war tatsächlich selbst nicht eingeweiht. Mehr bekam sie nicht von ihm zu hören als diesen einen Satz: „Mach dir keine Sorgen. Man wird dir schon sagen, was du zu tun hast.“ Aber genau das war doch das Problem! Was würde man ihr sagen, was würde sie zu tun haben? Was war, wenn sie das Verlangte nicht tun konnte oder es nicht wollte? Unentwegt drehten sich die Gedanken im Kreis.
Den Sonntag verbrachte sie wartend in zäh dahinkriechenden Stunden. Gegen Abend erst sollte sie abgeholt werden, auch darum also kümmerten sich andere, sie selbst musste nur da sein und brauchte keine Pläne zu schmieden und keine Vorbereitungen zu treffen. – Oder doch? Als sie am Nachmittag ins Bad ging, um zu duschen und sich umzuziehen, stand Wolfgang parat und drückte ihr ein Päckchen in die Hand. „Da ist etwas für dich drin. Sei so lieb und zieh es an.“ Leicht lag es in der Hand, wog fast nichts, und geheimnisvoll sah es aus, umwickelt mit schwarzem Papier und geschmückt mit einer purpurnen Schleife.
Sie packte es neugierig aus und fand darin einen spitzenbesetzten schwarzen BH, einen winzigen schwarzen String, schwarze Strümpfe, halterungsbedürftige, wie das Foto auf der Packung verriet, und dazu einen schwarzen Strumpfgürtel, den feine Spitzen zierten. – Strapse! So etwas hatte sie noch nie angehabt, das erschien ihr verrucht, hurenhaft. Für einen Moment überlegte sie, das nicht anzuziehen, sich zu verweigern. Und dann? Wolfgang würde enttäuscht sein, außerdem gehörte es offenbar zum Spiel. Mit spitzen Fingern legte sie den Strumpfgürtel nach dem Duschen um die Taille, zog die hauchzarten Strümpfe über die Beine, klemmte sie ungeschickt an den metallenen Verschlüssen fest, zog ein schwarzes knielanges Kleid darüber.
Nervös betrat sie das Wohnzimmer, begleitet von einem leisen reizvollen Kribbeln. Es war, als würde sie Verbotenes tun. Wolfgang nahm sie in die Arme, sie schmiegte sich an ihn und spürte seine Hände wie suchend über ihre Taille gleiten. Angeregt hielten sie inne, als sie das Gesuchte fühlten, gerade in dem Moment, in dem ihr eine verwunderlich profane Frage in den Sinn kam: „Ist mein Aufenthalt bei dieser Madame eigentlich arg teuer für dich?“
„Ziemlich teuer. Aber das bist du mir wert.“
War diese Logik in sich stimmig? Hatte er nicht etwas durcheinandergebracht? War sie ihm so viel wert oder waren es nicht eher seine Wünsche, für deren Erfüllung er das Geld ausgab, über dessen Summe er lieber schwieg? Sie behielt ihre Fragen für sich, würde ja doch keine vernünftige Antwort bekommen.
Als er wieder von ihr abließ, setzte sie sich an den Sekretär, um sich mit einem vorläufig letzten Eintrag von ihrem Tagebuch zu verabschieden. Längst schon hatte sie ihm das Ansinnen ihres Gatten und ihre skeptische Zustimmung mitgeteilt, nun schilderte sie ihm, in welcher Stimmung sie hier saß und was sie unter dem Kleid trug. Auch das sollte der Erinnerung bewahrt werden. Zuletzt notierte sie ihre Hoffnung, dass sie die kommende Zeit unbeschadet an Leib und Seele überstehen werde, und schenkte sich ein letztes aufmunterndes Wort. Seufzend klappte sie es zu, verstaute es im Fach und schaute durch das Fenster hinaus zu den farbenfrohen Blüten unter einem grau bedeckten Himmel.
„Jetzt müsste sie eigentlich bald kommen“, ließ sich Wolfgangs Stimme vom Sofa her vernehmen.
In diesem Moment läutete es an der Tür und sie zuckten beide erschrocken zusammen.
Es stand keine „sie“ vor der Tür, sondern ein „er“, ein mittelgroßer, mittelalterlicher, mittelschlanker Mann mit weder abschreckenden noch besonders einnehmenden Gesichtszügen. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der einer Uniform ähnelte, und auf seinem dunkelblonden schütteren Haar thronte eine blaue Schirmmütze, wie Schiffskapitäne, Marineoffiziere oder Chauffeure sie zu tragen pflegten.
„Guten Tag“, sagte er mit wohlartikulierter präziser Stimme. „Ich komme im Auftrage der Madame von Sinnenhof.“
„Ja“, nickte Wolfgang. „Wir sind so weit, das heißt, meine Gattin ist so weit. Sie wird jeden Moment kommen.“
Sie war schon da, stand hinter ihm, verwundert darüber, dass ihr Wolfgang, leitender Angestellter eines Chemiekonzerns und Vorgesetzter einer ganzen Abteilung, unter dem ruhigen Blick eines Chauffeurs so ungewohnt zappelig wurde. Kaum wagte er sie zu umarmen, flüchtig nur drückte er sie an sich und hilflos tätschelte er ihre Achsel.
„Tja, du hast es so gewollt“, sagte sie.
„Ja, ich habe es so gewollt.“
„Noch gibt es ein Zurück.“
„Ohne