Silvia - Folge 2. Jürgen Bruno Greulich
„Du weißt davon?“
„Wissen ist übertrieben. Ich vermute nur.“
Corinna hauchte einen Kuss auf Silvias Busen. „Iris ist ein zartes Kind, dem man übel mitgespielt hat. Sie braucht Liebe, Wärme, Geborgenheit, um das Vertrauen in die Welt wiederzufinden.“
„Dann ist es also ein Akt der Nächstenliebe?“
„Natürlich, was sonst. Sie ist sehr reizvoll, so zerbrechlich, so jung, so sanft und empfänglich … Zu zerbrechlich und zu jung für mich. Du musst dir keine Sorgen wegen ihr machen.“ Zärtlich strich ihr Finger über Silvias frische Striemen, die rötlich unterlaufen über den verblassenden blauen Linien lagen. „Der Kleine hat dich ganz schön rangenommen. Das ist ungewöhnlich, die meisten Gäste schlagen nicht so hart zu.“ Woher wusste sie, dass es der „Kleine“ war? Offenbar war sie besser informiert, als Silvia dachte, aber das war ja auch schon drüben im Mädchenhaus so gewesen.
„Es war wegen Iris.“ Silvia berichtete von ihrem Erlebnis.
Corinna lächelte versonnen. „So sucht jeder seinen eigenen Weg, um an sie heranzukommen. Ihre Unberührbarkeit macht sie zur Attraktion, viele der Gäste sind scharf auf sie. Na ja, irgendwann wird einer sie bekommen und sie zu einem ganz normalen Mädchen werden.“
„Meinst du?“
„Sicher. Warum sonst wäre sie ständig unten im Foyer? Niemand verlangt das von ihr. Sie steht vor der Schwelle, möchte eintreten, wagt aber den Schritt noch nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
Das Telefon läutete, Corinna erhob sich, nahm ab und setzte sich auf den Drehstuhl, nackt, wie sie war. Sie sah gut aus, wohlproportioniert, klein war ihr Busen, rund und fest, faltenfrei die helle Haut. Wie alt sie wohl sein mochte? Um einiges älter vermutlich, als sie aussah, vielleicht so alt, wie sie als Herrin wirkte. Mit streng gerafftem Haar und kühl beherrschter Miene konnte man sie gut auf vierzig schätzen, im Augenblick aber war sie um viele Jahre jünger. Sie sprach nur wenige Worte, legte gleich wieder auf und teilte bedauernd mit, dass in einer halben Stunde der Steuerberater komme, um die Zahlen fürs letzte Quartal vorzulegen. Auch das gehörte zu Corinnas Welt.
Sie zogen sich an, schweigend, ein bisschen verwirrt, wie aus einem wundersamen Traum gerissen. Ihre Lippen verschmolzen zu einem Abschiedskuss und gelöst, beinahe glücklich kehrte Silvia in ihr Zimmer zurück, das sie so angespannt verlassen hatte. Sie war sich sicher, dass es ein solches Zusammensein mit Corinna bald wieder geben würde, und trug das Warten darauf in sich wie ein wegweisendes wärmendes Licht. Und Iris? Sollte Corinna ihr gutes Werk an ihr vollbringen, es störte sie nicht, da sie keinen Anspruch auf alleinigen Besitz erhob. Wie sollte sie auch. Man kann eine Herrin nicht besitzen, ebenso wenig einen anderen Menschen. Silvia wollte nicht besitzen und nicht besessen werden. – Dieses Wort schon, als säße jemand auf einem drauf, hielte fest mit seinem Gewicht, erdrückend und die Luft raubend. – Nein, dann doch lieber die Nachtigall sein, die den Zweig, der sie trägt, nicht zum Eigentum erklärt. Und die sich in die Lüfte rettet vor der greifenden Hand? Nicht unbedingt. Gehörte diese Hand Corinna, musste sie nicht fliehen, ihr konnte sie sich anvertrauen, sie würde sie in keinen Käfig sperren, zu ungebunden war Corinna selbst, um nicht wieder loszulassen. Sie musste sich keine Sorgen machen.
Von der Toleranz der Ehefrau
An diesem Nachmittag kam Silvia ein halbes Stündchen zu spät zu ihrem „Dienst“, was man sich aber erlauben konnte, wenn Grund für die Verspätung ein Schäferstündchen mit der Chefin war. Außerdem gab es nicht allzu viele Kunden, sodass sich ihre Kolleginnen nicht über mangelnden Beistand beklagen mussten. Als sich die Dunkelheit vom Himmel senkte, traf sie bei einer kleinen Pause drüben im Speiseraum auf Corinna, die freundlich war, doch distanziert, als sei nichts gewesen oder als wolle sie das Gewesene den anderen Mädchen verheimlichen. Nur als sie sich erhob und den Raum verließ, streifte sie Silvia mit einem liebevollen Blick, ebenso Iris. Als Chefin draußen in einem normalen Betrieb hätte ihr Handeln gegen elementare Regeln verstoßen, hier tat es das zwar auch, doch befand sie sich nun mal in ihrem eigenen Reich, in dem sie die Spielregeln selbst festlegte. Vermutlich hoffte sie schwer, dass ihr Treiben nicht in Konfusion enden möge.
Auch Silvia blieb nicht mehr lange sitzen. Ins Foyer zurückgekehrt, wurde sie von einem Kunden ins Zimmer zwei verschleppt, und danach suchte sie die Garderobe auf, um sich wieder frisch und hübsch zu machen. Alles hier in diesem intimen Raum war Sinnlichkeit; sie schaute aus den Schminkspiegeln, wohnte in den Kleidern ringsum, atmete im Duft des Parfüms, wisperte an den warmen roten Wänden, hieß jede Eintretende herzlich willkommen.
Kaum hatte sie das fleckig gewordene Negligé in den Wäschekorb geworfen, kam Annemarie aus der Dusche, in ein weißes Badetuch gewickelt. Sie hatte auch die vergangene Nacht im Schloss verbracht, nicht erpicht darauf, nach Hause zu fahren. „Da muss ich ewig nur Eis vom Auto kratzen“, erklärte sie. „Und außerdem, was soll ich daheim, da sitzt ja doch nur mein Freund auf dem Sofa und starrt Löcher in die Luft.“
„Hat er nichts zu tun?“, fragte Silvia.
„Doch. Er plant eine Schule für Lebenskünstler zu gründen und ist dabei, den Lehrstoff zu sammeln.“
„Auf dem Sofa?“
„Ja, das ist seine Form der Lebenskunst.“
„Und wovon lebt er?“
„Von mir natürlich. Ich bin Teil seiner Kunst.“
„Und du findest das in Ordnung?“
„Ach, nach diesen ganzen dynamischen, erfolgreichen, selbstbewussten und smarten Kunden hier ist die Nähe eines nichtsnutzigen Faulpelzes recht erholsam. Außerdem hat er mir schon einmal ein Paar Socken gestrickt.“
„Das klingt nach Liebe. Lass ihn sitzen auf deinem Sofa.“
„Ja, das denke ich auch.“
Bald waren sie beide für die Gäste zurechtgemacht, geschminkt, gepudert, mit Parfüm bestäubt und in ein transparentes Negligé gehüllt, bereit, die Mannesblicke anzuziehen wie bunte Vögel die Katzen. – Oh! Es hatte sich etwas getan im Foyer. Keine Öde mehr, keine gelangweilte Verlassenheit. Es herrschte jetzt knisterndes Leben, erwartungsvolle Kunden, manche mit einem Glas Wein, Kognak oder Whisky in der Hand, wurden charmant bezirzt von den Mädchen, vier an Zahl momentan, zum Glück waren einige Freiwillige erschienen. Iris reichte Getränke, sorgte für saubere Aschenbecher und auf Wunsch für fachgerecht angekettete Opfer, Immanuel schenkte Wein, Spirituosen, Mineralwasser aus, ließ den Jazz erklingen, beobachtete die Zimmer auf seinen Monitoren und kassierte all das viele Geld, das die Gäste für den Liebesdienst bezahlten. (Noch immer fand Silvia es unbegreiflich, dass ein flüchtiger Genuss so viel wert sein solle, aber natürlich war dieses Haus mit den ausgesucht hübschen und willigen Gespielinnen für jeden liebes-, nein, sexhungrigen Mann das reinste Paradies und für ein solches konnte ja bekanntermaßen kein Preis zu hoch sein.)
Ein Gast stand verloren am Tresen, ohne Begleiterin, und schaute ihnen erfreut entgegen. Endlich zwei, die Zeit für ihn hatten. Sie begrüßten ihn lächelnd, nahmen ihn in ihre Mitte, stellten sich vor.
„Annemarie und Silvia“, wiederholte er selig. „Ihr seid zwei Engel.“ Waren sie das? Und wenn ja, von wem gesandt? Vom Himmel, wie dieser Mann vermutlich meinte, oder von der anderen Seite? Der Mann griff nach seinem Kognakschwenker, als müsse er sich an etwas festhalten, der goldene Ehering stieß mit hellem Klang gegen das Glas und wie eine Hand glitt sein Blick über Silvias, dann über Annemaries Körper. „Ach, die Entscheidung fällt schwer. Am liebsten würde ich euch beide nehmen.“
Annemarie lächelte beschwichtigend. „Es hat keine Eile, lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Sie bestellte bei Immanuel ein Mineralwasser und mit einem seligen Seufzen ein kleines bisschen vom Amaretto. „Ich mag das, es schmeckt einfach himmlisch.“ Und Silvia? Fragend schaute Immanuel sie an. Nein, sie mochte jetzt nichts, später. Ihr Blick schweifte durch den Raum – und blieb an Monikas Begleiter hängen. Diesen Mann mit dem braunen, kurzen Haar, der stumpfen Nase und den fleischigen Lippen kannte sie, es war der aus dem Zug, er hatte sie zu den Taxis begleitet