Silvia - Folge 2. Jürgen Bruno Greulich
nicht hinter dem Tresen, wie man hätte vermuten können, aber im südlichen der beiden Türme, die des Schlosses Flügel behüteten. Darin hatte er sein Zuhause, doch mehr noch hier im Foyer, in das er verwachsen war wie das Herz in einem lebenden Organismus. Gab es sonst nichts in seinem Leben? Nicht mehr, seitdem seine Frau in relativ jungen Jahren verstorben war und er seinen Lehrstuhl für Geschichte an einer bedeutenden Universität aufgegeben hatte.
Was? Silvia staunte. Vom Universitätsprofessor zum Barmann eines Bordells, gab es eine solche Karriere wirklich? Aber sicher doch, bestätigte Marlies. Er habe die menschliche Geschichte als Kette unendlichen Leids begriffen, das die Mädchen hier besser kannten als seine gelangweilten Studenten. Und hier, so fügte Monika hinzu, könne er hautnah das erleben, was die Welt schon immer bewegte: die menschlichen Triebe und die Macht des Geldes. Und überdies, so behauptete Marlies, könne er hier für die Töchter sorgen, die ihm selbst nie geboren wurden.
Immanuel lächelte. Ob er ihren halblauten Worten lauschte oder nicht, ließ sich nicht herausfinden. Er brühte Kaffee auf, stellte drei Tassen auf den Tresen, schenkte ein, der gute Geist, der für seine Mädchen sorgte. Wieso aber sollten diese das menschliche Leid so gut kennen? Fühlten sie sich nicht wohl hier? Doch, das taten sie, aber darunter, unter dem Wohlgefühl und unter der verführerischen Hülle, da wohnte es, das Leid, vermutlich in jeder von ihnen, wurde manchmal für kurze Momente ans Licht gezerrt von den herablassenden Worten der Gäste und klarer noch unten, im Chambre O. Die Wurzeln saßen tief im Verborgenen, fest verankert, jedenfalls waren es nicht Glück und Unbeschwertheit, die in dieses Haus hier führten.
Iris kam kurz nach ihnen, in ein langes weißes Gewand gehüllt. Sie verteilte Aschenbecher auf den kleinen Tischen bei den Sofas, rückte das eine und das andere Tischtuch gerade, einen halben Millimeter weit, zupfte diese und jene Blüte in der Vase noch zurecht. Die Gäste konnten kommen, alles war bereit. Doch nein, es fehlte noch ein Mädchen, sie waren nur zu dritt, da Iris, die Unberührbare, nicht zählte. Aber reichten drei nicht aus am hellen Nachmittag, an dem doch wohl nicht viele Männer Lust und Zeit für einen Besuch im Schloss fanden? Na ja, es gehe schon ruhig zu, aber trotzdem, es müsse dem Gast eine gewisse Auswahl geboten werden, man könne ihm ja schließlich nicht zumuten, einfach nur mit dem erstbesten und einzig vorhandenen Mädchen vorliebzunehmen, erklärte Monika mit der Sachlichkeit einer Verkaufsleiterin. Das wäre ja schrecklich, lächelte Silvia, unvorstellbar, fast schon ein Verstoß gegen die Menschenrechte oder gegen das Mannesrecht vielmehr.
Gleich der erste Gast des Tages widerlegte Monikas Verkaufsphilosophie, zeigte sich am Mannesrecht auf freie Mädchenwahl nicht interessiert. Er war ein bulliger Mann mit feisten Wangen und kleinen grünen Augen. Mächtig war der Schädel, auf dem kein einziges Härchen spross, rosig, als seien sie geschminkt, schimmerten die schmalen Lippen und verwegen standen die großen Ohren ab, als wolle er mit ihnen die Welt umsegeln. Seine fetten Finger wurden geschmückt von prächtigen Ringen, alles an ihm war von bester Qualität: der dunkle Anzug, das weiße Hemd, der blaugrüne Schlips, die blank polierten schwarzen Schuhe. Er sah aus wie ein König und benahm sich wie ein Lakai. Stolzierte er noch erhobenen Hauptes herein, so wurde er immer kleiner, je näher er Marlies kam, sein Schritt stockte, das Genick zog sich ein, es fehlte nicht viel und er wäre die letzten Meter gekrochen.
Er blieb zwei Schritte vor ihr stehen und senkte servil den Blick. „Wäre es Ihnen möglich, ein bisschen Zeit für mich zu finden?“
Marlies saß auf dem Barhocker wie auf einem Thron und ihre Antwort ließ auf sich warten, sie schien zu überlegen, ob sie seiner Bitte stattgeben solle. Herablassend verkündete sie ihre Entscheidung: „Wenn du es so haben willst?“
Er wollte es so haben, natürlich. Ohne dass sie ihn erst dazu auffordern musste, zog er mit seinen manikürten Händen eine prall gefüllte Brieftasche hervor und legte einen Fünfhunderteuroschein auf den Tresen. Mit zwei Schritten Abstand folgte er Marlies sodann zu den Liebeszimmern.
Beeindruckt schaute Silvia ihnen nach. „Sie hat ihn gut im Griff.“
Monika nickte. „Ihr kriechen die Männer buchstäblich zu Füßen. Das ist anders als bei uns.“ Ja, das war anders, keine Frage. „Er ist einer ihrer Stammkunden, fährt dreihundert Kilometer bis hierher, um ihre Schuhe zu lecken, oder lässt sich fahren, um genau zu sein. Draußen im Wagen wartet sein Chauffeur.“
„Wie kommt ein solcher Mann zu so viel Geld?“
„Ihm gehört ein Softwarekonzern, oder gehörte ihm jedenfalls, bevor er an die Börse ging. Er sitzt noch immer im Vorstand und sicherlich auf einem großen Aktienpaket. An Geldmangel leidet er nicht.“
Woran er dann litt, im Augenblick jedenfalls, konnten sie sich beide gut vorstellen. Diese „Neigungen“ waren also nicht auf das weibliche Geschlecht beschränkt, auch ein bulliger, erfolgreicher, sicherlich selbstbewusster Mann konnte ihnen ausgeliefert sein, kaum hätte Silvia das für möglich gehalten. Natürlich aber gab es Unterschiede: Während sie daran verdiente, musste er dafür bezahlen, ein Vorteil für sie, anderseits aber schlüpfte er nach dem Verlassen des Hauses wieder in die Rolle des Chefs, des Bestimmenden, während sie blieb, was sie war. Ein Vorteil für ihn? Er musste im Zwiespalt leben, sich aufteilen in den Mann hier und den Mann draußen, musste wandern zwischen den Welten, nicht sehr beneidenswert. Sie hätte nicht mit ihm tauschen mögen, er vermutlich ebenso wenig mit ihr, sie taten beide, was sie zu tun hatten, konnten sich selbst nicht verlassen, mussten aus den Umständen das Beste machen, es war müßig, ihrer beider Leben miteinander zu vergleichen.
Die Tür der Garderobe wurde geöffnet und ein Mädchen mit langem dunklem lockigem Haar erschien. Sie war in ein kleines rotes Negligé gehüllt und kam grazil auf roten Stöckelschuhen daher. Rot geschminkt waren ihre vollen Lippen, dunkelbraun die großen Augen, ihr Gesicht war das einer Südländerin, herb die Linien, feurig, selbstbewusst, sie war mittelgroß und gut gebaut mit üppigen Brüsten, schmaler Taille und fleischigen Hüften.
„Hallo, ich bin ein bisschen spät dran“, sagte sie mit rauchiger Stimme und zuckte nach einem Blick in den leeren Raum mit den Achseln. „Aber wie es aussieht, habe ich nichts verpasst.“
„Hallo, Sonja“, begrüßte Monika sie. „Was ist denn mit Sibylle?“
„Sie hat ihre Tage.“
Sibylle, so erfuhr Silvia, hätte heute eigentlich Dienst gehabt, da nun aber verhindert, war für sie also Sonja gekommen, eine der drei „Freien“. Diese „Freien“ wurden so genannt, weil es für sie keine festen Dienstzeiten gab. Sie sprangen immer dann ein, wenn eines der Mädchen fehlte, sei es, weil sie krank war oder ihre Tage hatte oder Urlaub nahm.
Silvia staunte. „Urlaub gibt es hier auch?“
„Aber natürlich.“ Aus Monikas Stimme klang die Kampfbereitschaft einer Gewerkschafterin. „Man kann doch nicht ununterbrochen für die Männer da sein, das hält ja die stärkste Frau nicht aus.“
Sonja relativierte: „Viele Frauen müssen es aushalten. Man hat es kaum irgendwo so gut wie hier.“ Mitfühlend schaute sie Silvia an, betrachtete wohl die noch immer sichtbaren Striemen. „Du hattest vorher wohl einen härteren Job?“
„Na ja, hart war er schon, der Job, allerdings nicht mit diesem hier zu vergleichen.“ Wieder einmal musste Silvia ihre Geschichte erzählen und wieder einmal fiel es ihr nicht schwer. Die Maßstäbe waren anders als „draußen“, was dort schockierend gewesen wäre, eigentlich unaussprechlich, galt hier als relativ normale Vita. Es gab schlimmere Schicksale, man musste nur an Iris denken, die Stille, die das Herz anrührte (und mehr als nur das Herz vermutlich, zumindest bei Corinna).
Geduldig hörte Sonja zu, dann wiegte sie weise das dunkle Haupt. „Jetzt haben sie ein echtes Problem, dein Mann und seine Geliebte, denn was machen ein Gebieter und eine Herrin ohne Sklavin?“
„Sollen sie sich halt gegenseitig auspeitschen. Sie hätten es verdient.“
Vereinzelt erschienen die Gäste wie weiße Wolken an einem sommerblauen Himmel. Einige kamen zielstrebig zur Sache, wählten nach prüfendem Blick eine Gespielin und gingen mit ihr auf ein Zimmer, andere ließen sich Zeit, verweilten im Foyer, tranken Kaffee oder Kognak, plauderten mehr oder