Silvia - Folge 2. Jürgen Bruno Greulich
Na ja, ein bisschen war sie geschmeichelt, fand diesen Mann auch sympathisch, hatte ihn damals schon gemocht, vielleicht in manchem Augenblick sogar mehr als das, aber … Zu neu war das neue Leben, zu ungefestigt, zu aufregend, als dass so etwas wie Liebe derzeit darin hätte Platz finden können. (Aber wieso „derzeit“, war dem nicht schon lange so?)
Sie wich aus: „Du hast im Auto gewartet bei dieser Kälte? Du musst ja halb erfroren sein.“ Statt „halb erfroren“ hätte sie auch „verrückt“ sagen können, es meinte das Gleiche.
„Na ja, sehr angenehm war es nicht. Aber es hat sich gelohnt.“
Hatte es das? Was wollte er von ihr, was erwartete er, welchen Fantasien hing er nach? „Ich bin keine Sklavin mehr.“ Den Zusatz „jedenfalls nicht deine“, ersparte sie sich lieber.
„Ich weiß. Ich habe dich auch nie als Sklavin gesehen.“ Er bemerkte die Zweifel in ihrem Blick und korrigierte sich. „Höchstens vielleicht ganz am Anfang.“ Die gespitzten Ohren der Bedienung wiesen darauf hin, dass dieses Bistro nicht der rechte Ort für eine solche Unterhaltung war. Helmut (Silvia hatte seinen Namen nicht vergessen) schaute auf seine Armbanduhr, die er unter diversen Schichten von Pulloverärmeln hervorwühlte. „Ich habe Abendschicht und muss bald gehen. Können wir uns mal treffen, nächste Woche vielleicht? Da habe ich frei.“
Warum nicht? Nächste Woche würde sie ihre Tage haben und für das Foyer nicht zur Verfügung stehen. Bevor sie alleine in ihrem Zimmer saß … Sie sagte, wie sie zu erreichen war, die Nummer des Schlosses gewählt (die er natürlich kannte) und die Vierzehn dazu (das ließ sich einfach merken). So war er denn nun der Erste, dessen Anruf sie erwarten konnte. Er wollte ihre Rechnung bezahlen, doch ließ sie das nicht zu, sicherlich verdiente sie mehr Geld als er, was sie ihm natürlich nicht sagte. Dass sie seinen Kaffee gleich mitbezahlte, schien seine Ehre nicht zu verletzen, anscheinend war er trotz seines anachronistischen Jobs ein halbwegs modern denkender Mann. Beim Gedanken an die aufdringlichen Blicke der Taxifahrer schlug sie vor, dass er sich erkenntlich zeigen und sie zum Schloss mitnehmen könne.
Er war erfreut. „Ja, gerne.“
Sein rotes kleines Auto stand nicht weit entfernt vom Bistro im Parkverbot, am Scheibenwischer hing ein Strafzettel, den er grummelnd in die Jackentasche stopfte. Ächzend quetschte er sich sodann hinters Steuer, passte kaum hinein. Schon lange war Silvia nicht mehr in einer solchen Klapperkiste gesessen, hatte gleich nach der Führerscheinprüfung einen ähnlichen Schrotthaufen gefahren, dann aber, durch Wolfgang bedingt, nur noch komfortable Limousinen. Mitleiderregend heulte das bisschen Motor und wie eine alte Dame hielt sich Silvia am Griff über dem Fenster fest, fühlte sich alles andere als sicher.
Sie fragte Helmut, was er so verdiene mit seinem seltsamen Job.
Er zuckte mit den Achseln. „Nicht sehr viel. Doch komme ich zurecht. Ich kann nicht klagen.“
„Wie bist denn dazu gekommen?“
Er winkte ab, als sei ihm dieses Thema peinlich. „Durch einen komischen Zufall.“
„Schon wieder ein Zufall?“
„Na ja, das war wirklich einer. Ich hatte mal ein Modell, das eine Freundin hatte, die im Schloss arbeitete. Als ich ihr meine finanziellen Nöte klagte, damals hatte ich Grund zur Klage, sagte sie, dass ihre Freundin von den Klagen ihrer Chefin berichtet habe, die dringend einen stattlichen und halbwegs kultivierten Mann für eine etwas delikate Aufgabe suchte, wie sie sich ausdrückte. Tja, und so trat ich denn mit der Herrin in Kontakt, bekam den Job und mache das nun schon seit über drei Jahren.“
„Was für ein Modell hattest du denn?“
„Ein sehr hübsches, sie hieß Klarissa, war noch sehr jung …“
„Und wozu brauchtest du ein Modell?“ Das war die Frage, die sie eigentlich hatte stellen wollen.
„Na ja, für meine Bilder halt.“
„Für was für Bilder? Fotografien?“
„Nein, ich bin Maler.“
Ach. – Um ihm diese Auskunft zu entlocken, hatte es fast den ganzen Weg bis zum Schloss gebraucht. Nun ja, zwischen einem Maler und einem Alleinunterhalter lagen doch offenbar Welten. „Und was für Bilder malst du?“
„Kubistische und abstrakte“, erklärte er unerwartet konkret, während er das Auto in die Einfahrt des Schlosses lenkte. Das Tor hinter dem Turm schwang vor ihnen auf und sie rollten zum Personalparkplatz. „Aber schau sie dir doch einfach mal an nächste Woche.“
„Ja, das würde mich interessieren.“
Er parkte zwischen Corinnas Luxuslimousine und einem dunklen Mittelklassewagen. Sie stiegen aus und ihre Wege trennten sich. „Ich gehe außen rum.“ Seine Hand beschrieb einen halben Kreis und er lächelte schüchtern. „Ich rufe dich an … ich freue mich auf dich.“ Silvias Lächeln geriet verhalten. Nur keine Hoffnungen nähren, keine Träume schüren. Mit einem Winken stapfte er los, hinüber zum Mädchentrakt, um seine Sklavinnen zu beaufsichtigen. Wenn die wüssten, dass er nur ein einsamer Mann war, der vergebens nach der Liebe einer Prostituierten lechzte, vielleicht würde ihr Respekt vor ihm schrumpfen oder (bei genauerer Überlegung) ihre Angst noch wachsen.
Vom Reiz der Zöpfe
Es gab kein ernstliches Grübeln darüber, ob sie den Abend im Zimmer oder unten verbringen sollte. Hier oben herrschte Einsamkeit, dort unten Leben. Beim Betreten des Foyers war sie weniger nervös als gestern, es war kein fremdes Land mehr, das sich vor ihr auftat, allerdings auch kein vertrautes Terrain, noch lange nicht. Immerhin aber kannte sie schon einige Orientierungspunkte. Einer der wichtigsten war Immanuel, der Barmann, Kassenwart, Organisator. Doch war er noch mehr als das, nämlich Wächter über die Liebeszimmer und Beschützer der Mädchen. Über seiner Flaschenbatterie, verborgen von der hohen Blende und nur von seinem Platz hinter dem Tresen einsehbar, gab es eine Reihe von Monitoren, für jedes Zimmer einen, so erfuhr Silvia von Monika, die heute Dienst hatte. Er wusste also über das Geschehen in den Zimmern stets Bescheid und konnte bei Bedarf den Mädchen zu Hilfe eilen, was aber, so lautete der beschwichtigende Zusatz, so gut wie nie nötig sei.
Ihr Wort in Gottes Ohr. Auf jeden Fall aber wurde man ständig von Immanuel beobachtet wie bei „Big Brother“, nur bei viel verfänglicheren Szenen, ein höchst befremdliches Gefühl. Aber wozu das überhaupt, denn gab es nicht unter jeder Ecke der Betten einen Alarmschalter für alle Fälle? Das hatte Annemarie gestern behauptet.
Monika nickte. „Ja, die gibt es. Aber nicht immer kann man sie erreichen, manchmal ist man gefesselt oder wird festgehalten.“ Wie abwesend zupfte sie den Hauch von Stoff ihres roten Negligés über dem üppigen Busen zurecht.
Tja, so war es wohl. Manchmal war man gefesselt … „Dann wird Immanuel also Tag für Tag ein aufregendes Programm geboten. Macht es ihm nichts aus, immer nur zuzugucken, staut sich da nicht etwas an?“
„Manche vermuten, dass er ein Heiliger sei. Andere halten das für unmöglich, da er ein Mann ist und Mann und heilig sich ausschließen. Auf jeden Fall aber ist er nie anzüglich, lässt nie etwas verlauten von dem, was er sieht, ist immer höflich und hilfsbereit. Woher er seine Seelenruhe nimmt, ist sein Geheimnis.“
„Also doch ein Heiliger, wenn auch ein seltsamer.“
An diesem Abend blieb mehr Zeit zum Plaudern als gestern, da es weniger Gäste, dafür mehr Mädchen gab. Auch Annemarie und Danielle waren hier, freiwillig heute wie Silvia, dazu kamen die vier, die eingeteilt waren: Monika, Laura und zwei, die Silvia noch nicht kannte. Nicole hieß die eine, sie war eine unkomplizierte stupsnäsige Jurastudentin mit langem blondem Haar, die hier im Hause ihre Ausbildung finanzierte und niemals außerhalb der festgesetzten Tage erschien. Auch die andere, Juliane, war blond, ein keckes Mädchen mit glockenheller Stimme, ein Teenager fast noch. Suchte ein Gast nach einer Lolita, wandte er sich an sie, ließ sie das Haar zu Zöpfen flechten oder zu einem Pferdeschwanz binden und entzückte sich an ihrer kindlich süßen Sprache, die sie perfekt beherrschte. Sie musste über Mangel an Zuspruch nicht klagen.
Auch heute war