Silvia - Folge 2. Jürgen Bruno Greulich
ganz unter Kontrolle (wie sie ja auch nicht, wenn sie an ihr gestriges Erlebnis mit dem Gast namens Wolfgang dachte).
Zur Fußgängerzone, sagte sie, als er sie ausgezogen hatte mit seinem aufdringlichen Blick, irgendwohin, wo man einkaufen könne. Er wendete den Wagen und preschte los, wobei er jetzt wenigstens den Blick von ihr losriss, um nach vorne zu schauen, womit es also Chancen gab, die Fahrt heil zu überstehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen roten Kleinwagen aus einem Waldweg auf die nur wenig befahrene Bundesstraße einbiegen.
Das Städtchen erwies sich als größer denn gedacht, es wurde umgürtet von hässlichen Industriegebieten, die sich weit in die Ebene erstreckten, und in seinem Kern, der sich zwischen sanfte Hügel schmiegte, wechselten sich funktionale Glas- und Betonbauten mit schmucken Fachwerkhäusern ab. Bei einer frühmittelalterlichen großen Kirche, die von einem neu gebauten Kaufhaus erdrückt wurde, begann die Fußgängerzone und ihr gegenüber kam das Taxi zum Stehen.
„Ganz in der Nähe befindet sich der Bahnhof“, sagte der Fahrer und wies in eine abzweigende Straße. „Dort finden Sie zur Rückfahrt mich oder einen Kollegen.“ Er bedankte sich für das Trinkgeld, und gebadet in seinen zudringlichen Blick, gesellte sie sich zu den wenigen Fußgängern, die vor der roten Ampel warteten. Hinter ihr hupte aufgebracht ein Bus, sie schaute sich um und sah, wie der Fahrer wild gestikulierend einen roten Kleinwagen vertrieb, der die Haltestelle blockierte. Sie befand sich wieder in der „richtigen“ Welt, die so gar nichts gemein hatte mit der Abgeschiedenheit „ihres“ Schlosses, erlebte verwundert den alltäglichen Kampf in der Arena der Normalität, er kam ihr vor wie ein absurdes Theaterstück. Aber nur keine Anmaßung, auch sie spielte darin eine Rolle, ob sie wollte oder nicht, wenn augenblicklich auch nur die einer Statistin, die frierend durch die Straßen lief.
Die Fußgängerzone glich denen anderer Städte, Betonpflaster mit „Natursteincharakter“ beschwor Nostalgie, im Kontrast dazu standen Filialen von Hamburgerketten, überregionalen Optikern und eines Fischvermarkters für die moderne Zeit. In den Kinos liefen die bekannten aktuellen Filme, viel Interessantes gab es also nicht zu sehen. Auch die Kaufhäuser mit ihren glatten Fassaden waren denen anderer Städte zum Verwechseln ähnlich, Klone, wohin man auch schaute, die sogenannte „Philosophie“ (wie achtlos doch mit den Worten umgegangen wurde) des Wiedererkennungseffektes erstickte jede Originalität.
Immerhin fand sie in einem der glitzernden Einkaufstempel schon bald das Gesuchte: baumwollene Slips, dichte Strumpfhosen, warme Unterhemden und wollene Socken. Sie ging nach dem Bezahlen noch einmal in eine Umkleidekabine und zog sich um, packte die Strümpfe, den Strapsgürtel und das Negligé in die Tasche, sie erfüllten im Foyer ihren Zweck, nicht in der Kälte des Tages.
Wie lange sie schon nicht mehr „richtig angezogen“ gewesen war, sie fühlte sich verpackt wie eine Mumie, gewärmt, geschützt, geradezu anständig, ganz ungewohnt, einer jeder biederen Hausfrau ebenbürtig, sich selbst entfremdet? Aber woher denn, es war praktisch so und angenehm, die Kälte verlor an Biss beim Rückweg durch die fremde Stadt, die eintönig und abweisend unter dem fahlblauen Himmel lag. Ganz in der Nähe der Kirche gab es eine Bankfiliale in einem protzigen neuen Gebäude, sie betrat es wenig erfreut, füllte die Formulare für die Kontoeröffnung aus und wurde von dem jungen Angestellten scheel beäugt, als er auf ihrem Ausweis die weit entfernte Adresse las. Noch skeptischer, aber auch interessiert wurde sein Blick, als sie ihm sagte, dass eventuell anfallende Post an Schloss Sinnenhof geschickt werden solle. Damit wusste also auch er Bescheid. Er überreichte ihr die Unterlagen mit einem schüchternen Lächeln und aufatmend verließ sie die Bank, froh, diese lästige Pflicht hinter sich zu haben.
Ganz in der Nähe aber gab es etwas Erfreuliches zu sehen: ein kleines Bistro, das mit Spaghetti Alfredo und Kaffee lockte. Sie nahm Platz an einem der runden Tische, verstaute die Plastiktüte mit den Einkäufen auf dem zierlichen Stuhl gegenüber und gab bei der wenig beschäftigten jungen Bedienung die Bestellung auf. Frisch wirkte das Mädchen mit dem kurzen blonden Haar, dem jugendlich rosigen Gesicht, dem knabenhaften Körper, den sie unter einer weiten Jeans und einem weißen T-Shirt verbarg, die reine Unschuld, die noch einen weiten Weg vor sich hatte bis zur frustrierten Ehefrau eines missmutigen Gatten und entnervten Mutter quengelnder Kinder. Sie stakste zur Theke mit hölzernem Schritt und Silvia wandte den Blick zur Tür, da ein neuer Gast das Bistro betrat – kannte sie den nicht, war er das wirklich?
Er war groß, von fast hünenhafter Statur, sein Gesicht wurde von einem dunklen Schatten überzogen, voll waren die Lippen, grünlich grau die Augen. – Ja, das war er, „ihr“ Aufseher vom vergangenen Sommer, ganz eindeutig. Er trug einen langen dicken Lodenmantel, hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein dicker Schal, zweimal um den Hals gewickelt, drohte ihn zu ersticken, seine hohen Schuhe, mit langhaarigem Pelz besetzt, schienen direkt von einem Eskimo zu stammen, eine Fellmütze bedeckte den Kopf, aus dickem Fell auch bestanden die halbrunden Schoner über den Ohren. Offenbar war er fürs Überwintern am Nordpol ausgerüstet.
Mit einem erfreuten Lächeln stapfte er zu ihr her und leise, fast schüchtern erklang seine rostige Stimme: „Hallo, Silvia, schön, dich zu sehen. Darf ich mich setzen?“
Er durfte, ja, auch sie freute sich, ein bisschen jedenfalls. „Das ist aber ein Zufall, dass wir uns hier begegnen.“ Sie nahm die Tüte vom Stuhl, stellte sie auf den Boden, um Platz für ihn zu schaffen.
„Ja, kaum zu glauben“, murmelte er. „Wie geht’s dir denn?“ Sonderlich überrascht schien er nicht zu sein, sie hier in dieser Stadt anzutreffen, in der er sie doch eigentlich nicht vermuten konnte. Er fragte nicht, was sie hier tue, ob sie vielleicht nach hierher umgezogen sei oder sich zu einem Kurzurlaub hier befände, nahm ihre Anwesenheit einfach wie selbstverständlich hin.
„Danke, ganz gut.“ Warum sie es plötzlich peinlich fand, ihm von ihrer Rückkehr nach Schloss Sinnenhof zu erzählen, war ihr ein Rätsel, da sie vor diesem Mann doch wirklich keinen guten Ruf zu verlieren hatte. Ihre Stimme aber erstarb.
Er bestellte bei der Bedienung einen Kaffee. Wenn diese wüsste, wen sie da vor sich hatte, wäre ihr Lächeln vielleicht ein bisschen weniger freundlich ausgefallen, vielleicht aber auch nicht. Silvia überlegte derweil, wie sie ihn ansprechen solle. Ihr Behüter war er nicht mehr, das unterwürfige Ihr stand also nicht zur Debatte. Sie vielleicht? Aber hatte er sie nicht geduzt und konnte sie sich nicht Gleiches erlauben? Es fiel ihr nicht leicht, sie musste sich überwinden, doch sprach sie das Du dann aus, das sie sich ihm gegenüber niemals hätte erlauben dürfen im vergangenen Sommer: „Bist du noch auf dem Schloss?“
„Ja“, antwortete er atemberaubend lakonisch.
Ein beredtes Schweigen umschloss sie beide, ließ sie zu Verbündeten einer gemeinsamen Erinnerung werden, ob sie wollten oder nicht. Bilder tauchten auf. Silvia sah ihn in seiner Aufsehermontur, sah ihn mit dem Buch in der Hand und mit der Peitsche, sah sich im langen Gewand seinen Blicken ausgeliefert, sah sich den Freudenslip anlegen und vor ihm knien, um ihn um Nachsicht zu bitten … Vermutlich ähnelten seine Bilder den ihren.
„Ich habe oft an dich gedacht“, sagte er.
Konzentriert rührte sie in ihrem Kaffee. „Ich kann es mir vorstellen.“
„Nicht so, wie du vielleicht glaubst. Anders. Als ich von der Herrin gestern erfuhr, dass du wiedergekommen bist …“ Er unterbrach sich verlegen und senkte den Blick, wie sie es vor ihm immer getan hatte.
Er wusste also Bescheid, hatte sich deshalb über die Begegnung nicht gewundert. Sein Kaffee kam und ihr Essen auch. Nachdenklich wickelte sie einige Spaghetti um die Gabel. War diese Begegnung hier wirklich ein Zufall? So recht konnte sie daran nicht mehr glauben.
Sie nahm einen Bissen und schaute ihn an. „Ist wirklich komisch, dass wir uns in dieser gar nicht so kleinen Stadt kurz nach meiner Ankunft über den Weg laufen. – Fährst du zufälligerweise einen roten Kleinwagen?“
Er seufzte tief, kratzte sich sinnierend am nicht mehr bedeckten Kopf, trank einen Schluck Kaffee, seufzte ein zweites Mal, nickte ertappt und gestand, dass er im Auto in der Nähe des Schlosses gewartet hatte in der Hoffnung, dass sie vielleicht in die Stadt führe, was ja glücklicherweise auch geschehen war. Er könne