Second Horizon. E.F. v. Hainwald

Second Horizon - E.F. v. Hainwald


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sich Babe aufgrund dieser Unterschätzung beleidigt. Letztendlich kam es ihr jedoch gelegen.

      Ihre Gedanken waren auf wichtigere Dinge ausgerichtet als einen Schläger zu verprügeln, welcher seine Körpermodifikationen vermutlich nur mit einem gehackten Runenprägegerät belebt hatte.

      Der kratzige Bass der Trashtekk-Musik aus den weißen Kopfhörern hämmerte in ihren Ohren, doch Babe hörte es kaum. Sie pustete eine schwarze Haarsträhne, welche sich aus ihrem perfekt konturierten Longbob gelöst hatte, von den Lippen, trat an das armdicke Geländer und umfasste es mit ihren schmalen Händen. Die altersschwache Farbe rieselte von dem Metall in den breiten Schacht, der in die Eingeweide der Recycling-Fabrik tief unter ihren Füßen führte.

      Die Wände waren spiegelglatt. Keramikbehälter, welche mit magnetisch eingesperrtem Plasma gefüllt waren, bildeten riesige Uruz-Runen. Diese magisch-wissenschaftlichen Konstrukte ließen die Energie im Gebäude zirkulieren. Das unterschwellige Summen nahm kaum noch jemand wahr. Es gehörte hier zum Alltag, wie die beiden Monde am Firmament – auch wenn der eine erst seit drei Zivilisationen am Himmel stand.

      Natürlich war erst diesbezüglich eine ziemlich subjektive Zeitangabe, aber in Anbetracht der jahrzehntausendelangen, kontinuierlichen Aufzeichnungen der Menschheit, waren die paar Tausend Jahre zurückgerechnet lediglich ein kaltes Arschrunzeln – etwas länger her, ziemlich imposante Geste, juckte jedoch keine Sau.

      Babe stieß sich von dem Geländer ab, verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und lief zielsicher in eine der unzähligen Gassen, welche gerade einmal so breit wie ihre Schultern waren.

      Dieses Wohnviertel war – nennen wir es genehmigungsneutral – auf dem Dach der Fabrik errichtet worden, welche sich, ähnlich einem gigantischen Skarabäus, an den Hang des Himalaja-Gebirges klammerte. Die augenscheinlich selbst zusammengestümperten Wohngebäude leuchteten in den buntesten Farben. Die Fassaden waren chaotisch bemalt, beklebt oder anderweitig künstlerisch gestaltet. Babe wich einem aus gläsernem Mosaikgestein gefertigten Energieverteilerkasten aus, welcher, einem rundgelutschten Geschwür gleich, aus der Wand ragte. Die schlecht isolierte, magische Spannung kribbelte in ihren runenbeschlagenen Cyber-Knochen.

      Die Gasse endete abrupt.

      »Schon wieder? Diese hirngegrillten Magi-Arcs«, flüsterte Babe entnervt.

      Die Konstrukteure der Siedlung hatten wieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein paar geringfügige Änderungen vorgenommen. Da konnte es schon mal vorkommen, dass eine Straße verschwand, sich ein Gebäude um neunzig Grad drehte oder dein Schlafzimmer ein Freiluftpanorama erhalten hatte, sodass dein nackter Arsch weithin für alle Nachbarn sichtbar im Morgenlicht glänzte.

      »Tja, ich muss hier durch. Keinen Bock auf einen Umweg – geschweige denn erst mal einen zu suchen«, seufzte Babe, legte den Kopf in den Nacken und beäugte die Fassade kritisch durch ihre Sonnenbrille. »Sollte klappen. Na dann mal los.«

      Sie schnalzte mit der Zunge, drehte die dröhnende Musik am Holodisplay ihrer Kopfhörer noch lauter und ging in die Knie.

      Es brauchte keinen festen Gedanken, keine Absicht, kein mystisches Gemurmel. Für Babe war es so intuitiv, wie einen Arm zu heben.

      Mit einem Ruck stieß sie sich in einem übermenschlichen Kraftausbruch vom Boden ab und schoss wie eine Pistolenkugel senkrecht nach oben. Sie flog mehrere Stockwerke hinauf, packte mit einer Hand die Kante eines Fensters und katapultierte sich in ähnlicher Weise weiter hoch. Noch ein kurzer Tritt gegen die Wand des angrenzenden Gebäudes und sie landete auf dem schiefen Wellblechdach des in der letzten Nacht spontan entstandenen Gebäudes.

      Nur das zarte, punktuell blau schimmernde Licht unter ihrer Haut zeugte noch einen Augenblick von dem kurzen Kraftausbruch ihres von Magi-Techs geschaffenen Knochenbaus.

      Babe schaute sich um, damit sie sich neu orientieren konnte. Ihr letzter Abstecher hierher lag nur wenige Tage zurück. Dennoch war einiges verändert worden – die Magi-Arcs waren immer dabei etwas Neues entstehen zu lassen. Das war ihre Passion.

      Nicht selten musste man wegen der stetigen Umbauten durch kleine, exzentrische Geschäfte und private Treppenhäuser laufen. Manche Freundschaft war auf diese Weise entstanden. So beschrieb es zumindest der verklärte, urbane Mythos der Indies – kurz für Individualisten – in den Megacitys.

      Babe schnaubte abfällig, als ihr die schillernden Geschichten in den Sinn kamen, welche nach billigem Alkohol stinkende Opas in den wackeligen Kaschemmen mit freudig glänzenden Augen erzählten. Ob das wirklich an den wunderbaren Erinnerungen ihrer abenteuerlichen Jugend lag oder den gepanschten Pimps – der allgemeine Begriff für magisch-chemische Drogen, die einem das Hirn umstülpten – vermochte niemand so genau zu sagen.

      Und doch war dies der Ort, welchen diese exzentrischen Menschen bevorzugten. Sie waren auf die Straße geflüchtet, raus aus ihren engen Wohnungen in der Stadt, hinaus auf den Asphalt, welcher nach Freiheit duftete – und verkokelten Überresten wilder Magieanwendungen.

      Babe wandte sich ab, spazierte über die Dächer, kletterte Leitern hinab, durchquerte Räume, welche vielleicht mal als Wohnzimmer gedient hatten, und erreichte schließlich das Ende der Welt … dieser Welt.

      Ihre Fußspitzen überragten die glatte Kante des Fabrikdachs. Der Wind zupfte an ihren Haaren, wehte sie von hinten in ihr Gesicht, sodass sie die Strähnen mit einer Hand aus der Stirn schieben und festhalten musste. Als wäre dieser Moment eine kitschige Szene einer schnulzigen Online-Serie, begann ein ruhigerer, sphärischer Song in ihren Kopfhörern.

      Unter ihren Zehen bot sich den Augen ein gänzlich anderes Bild der Menschheit. Bis zum Horizont erstreckte sich Neo-Lhasa, eine der sieben Megacitys der Welt.

      Berge, Täler und Ebenen waren überzogen mit einem Schachbrett aus perfekten, im Grundriss kreisförmigen, Wolkenkratzern. Dazwischen erhoben sich große Pyramiden, deren kristalline Spitzen das Sonnenlicht in sein Farbspektrum aufbrachen. Geometrische Brillanten, strahlende Juwelen am Himmelszelt.

      Die Stadt war beinahe ein lebendiger Organismus. Das Metall, die Keramik und der Kunststoff ihr Körper. Die Magie und die Runen ihr Atem. Die Wissenschaft ihr Wille. Die Menschen ihre symbiotischen Bakterien und Viren. Dieser Ort wuchs unaufhörlich, wie auch die anderen Megacitys der Erde.

      Als der sanfte Song in Babes Ohren verklang und das Geschrubbe ätzender elektrischer Saiten ihr Hirn wachrüttelte, schüttelte sie den Kopf, um die tiefsinnigen Gedanken zu vertreiben. Die Zeiten solcher bedeutungsschwangeren Überlegungen hatte sie eigentlich schon lange hinter sich gelassen.

      Sie hatte auch mittlerweile ihr Ziel erreicht: ein verzahnter Turm aus Baracken. Das windschiefe Ding bog sich bedenklich über eine halbrunde Grube, welche mit Maschinen befüllt war. In dieses Loch warfen die Flugtransporter ausgediente Geräte, damit die Fabrik diese nach und nach transmogrifizierte – das bedeutete: Magie entzog, kanalisierte und dessen physische Gefäße umstrukturierte.

      Sie hangelte sich die erstaunlich sorgfältig befestigten Leitern nach oben und stand schließlich auf einer winzigen Veranda.

      Neben der Eingangstür standen ein Stuhl und ein kleiner Hocker, welcher als Tisch fungierte. Auf ihm fanden sich eine leere Flasche Rhabarber-Limonade, eine angeknabberte Packung Zartbitterschokolade und ein hölzerner Block, welcher mit einer groben Klinge solange vergewaltigt worden war, bis er die Form eines Zombiekopfes angenommen hatte – oder sollte es das Hinterteil eines Ochsen darstellen? Auf dem Fensterchen inmitten der mit Kampfkunstwerbeplakaten beklebten Tür, war mit Draht eine Minz-Pflanze befestigt. Ihr Geruch stieg angenehm in Babes Nase.

      Sie trat in das kleine Zimmerchen dahinter – direkt in eine enge Küchenzeile. Die verklebten Platten und geschwärzten Geräte zeugten von wenig Interesse an Sauberkeit. Raumdominierend war jedoch der mitten in Raum angebrachte, meterbreite Duschkopf.

      Sicher, der schlecht gekritzelte Runenkreis auf dem Fußboden sorgte für eine eingegrenzte Wasserglocke, aber wollte man wirklich zwischen Kühlschrank und Haustür duschen? Abgesehen davon: Soweit Babe wusste, war nie abgeschlossen. Ob das von latentem Exhibitionismus zeugte? Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit zu fragen – also, wenn es am peinlichsten und damit


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