Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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Despentes, »Das Leben des Vernon Subutex 2«

      Donnerstag, 14.11.2019

      Als Behütuns früh um kurz nach sieben die Bürotüre öffnete, brannte schon Licht. Kugler saß da und wartete. Es regnete noch immer, nicht stark, aber stetig. Die Erde konnte es gebrauchen nach der Trockenheit des Sommers, die Grundwasserspiegel waren überall noch viel zu niedrig. Und es war dunkel. Lichtarme Jahreszeit.

      »Morng, Meister.«

      »Morng. So früh schon auf den Beinen?«

      Kugler blieb sitzen, Behütuns gab ihm die Hand. »Gibt’s was Wichtiges?« Er stellte seinen Schirm ins Eck, warf seine Jacke über die Garderobe und rieb sich die Hände. Er hätte doch besser Handschuhe anziehen sollen. Aber immerhin hatte ihn der Fußmarsch über Burg, Hauptmarkt und durch die noch fast leere Fußgängerzone im Kopf etwas ruhiger gemacht, fast sortiert, hätte er gesagt. Das nasse Pflaster hatte im Schein der Laternen geglänzt, mal weiß, mal gelb, dann wieder bunt, und trotz der noch herrschenden Dunkelheit hatte man spüren können, dass ein neuer Tag anbrach – und wenn es nur vom Duft der frischen Brötchen und Hörnchen kam, der aus manchem Aufbackladen durch die Straßen waberte. Bäckereien gab es ja nicht mehr, man bekam überall nur noch Backlinge oder das Zeug aus der Fabrik. Das ehrliche Handwerk hatte sich längst verabschiedet, das achtete und bezahlte ja keiner mehr. Lieber fraßen die Leute den Dreck mit jeder Menge Zusatzstoffen. Wusste denn jemand, was da alles drin war? Nee. Und kümmerte es jemanden? Auch nee. Aber sich dann wundern, dass man plötzlich Unverträglichkeiten entwickelte. Für ne gute Semmel und ein gutes Brot brauchst du Mehl, Wasser und Salz, sonst nichts. Und Zeit natürlich, hatte ihm mal ein Bäcker gesagt. Doch was bekam man heute? Trotzdem Appetit, wenn man die Backlinge roch. Oder auch nur daran dachte, so wie er gerade. Hätte er sich doch nur eine Semmel gekauft vorhin, oder ein Hörnchen ... Aber nein! Das Zeug aß er nicht, hatte er beschlossen. Grundsatz. Mit Ausnahmen natürlich. Er schluckte, schüttelte den Gedanken ab und setzte sich auf die Schreibtischkante, erwartete Kuglers Antwort. Keine zwei Sekunden hatte er für den Gedankengang gebraucht.

      »Ich dachte, Sie wären wahrscheinlich daran interessiert, den vorläufigen Abschlussbericht der zehn kleinen Polizistileins zu bekommen, die die Nachbarschaftsbefragung rund um den Tatort durchgeführt haben.«

      »Sehr sogar. Leider kann ich Ihnen zu Ihren Ausführungen noch keinen Kaffee anbieten.«

      Kugler winkte ab. »Danke, ich brauch keinen Kaffee, ich hab ja auch nichts für Sie.«

      »Wie, nichts ...?«

      »Na ja, nichts halt. Keiner der Nachbarn hat etwas gesehen. Zumindest nichts, was er uns hätte erzählen wollen.«

      »Und Sie haben alle befragt?«

      »Wir haben alle befragt – haben inzwischen alle angetroffen.«

      »Die Kinder auch?«

      Kugler machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, Meister, die Kinder nicht, wo denken Sie hin? Außerdem sollten wir sie aus so einem Fall raushalten. Aber wir haben natürlich die Eltern gebeten, dass sie mal beiläufig mit ihren Sprösslingen reden, ganz stressfrei, sofern sie zur fraglichen Zeit daheim oder gar draußen waren.«

      Behütuns nickte zustimmend. »Könnte also sein, dass da noch was kommt.«

      »Möglicherweise, ja. Nur einen Nachbarn haben wir nicht erreicht. Den vom Haus schräg gegenüber, der 1 g, Sie wissen schon, wo hinten der kleine Pferdeplatz ist und der schmale Weg. Steidel heißt der, Hugo Steidel.«

      »Also doch nicht vollständig.«

      »Ich würde sagen: doch. Der Briefträger wirft nämlich die Post momentan bei ihm nicht ein, damit der Kasten nicht überquillt, sondern hebt sie für ihn auf, haben sie so ausgemacht. Steidel ist nämlich seit Sonntag im Urlaub. Kommt erst am Sonntag in einer Woche wieder.«

      »Fällt also weg.«

      »Jepp. Von Teneriffa aus wird er wohl kaum etwas gesehen haben, selbst wenn er da aus dem Fenster geschaut hat.«

      »Kugler belieben zu scherzen.«

      »Immer wieder gerne.« Die zwei verstanden sich, schon vom ersten Kennenlernen an vor ein paar Jahren. Die Sitzheizung.

      »Ich krieg das alles noch schriftlich?«

      »Kriegen Sie, die Kollegen sitzen schon dran. Ich wollte nur, dass Sie schon mal über die Essenz Bescheid wissen. Namen, Hausnummern, Zeiten und so kommt alles noch nach.«

      »Ich danke Ihnen.« Behütuns hatte sich inzwischen an seinen Schreibtisch gesetzt und zwischendurch ein paar Notizen gemacht.

      Kugler sah auf die Uhr. »Eine Sache hab ich noch.«

      »Ja?«

      »Es gibt ja so Zufälle. Die ganze Welt ist ja ein Zufall, so gesehen. Glaubt man bloß immer nicht, aber egal. Jedenfalls zwei Häuser neben den Rothlaufs, vorne im ersten, der 1 a, wohnt eine alte Schulfreundin von mir. Hab ich auch nicht gewusst, erst nachdem ich dort geklingelt hatte, um sie zu befragen, hat sich das herausgestellt. Mit der habe ich vereinbart, dass sie in der nächsten Zeit, wenn in der Nachbarschaft so geredet wird, ein wenig die Ohren offen hält. Vielleicht ergibt sich ja dadurch noch der eine oder andere Hinweis.«

      »Sehr gut.«

      »Danke für die Blumen. Ich hab ihr auch Ihre Nummer gegeben.« Damit erhob er sich und schob seinen massigen Körper Richtung Tür. »Also, Sie hören noch mal von mir, so oder so.«

      »Und wie heißt die Dame? Damit ich Bescheid weiß, sollte sie anrufen.«

      »Früher hieß sie Minic, Irmin Minic, ›Die Vier-i‹ haben wir sie in der Schule immer genannt, weil sie nur Is im Namen hatte. Ist aber schon ein paar Jahre her. Und ein paar Kilos.« Dabei sah er belustigt an sich herunter. Musste schon etliche Kilos her sein. »Jetzt heißt sie Sachs, Irmin Sachs. Wenn sie noch irgendwas in Erfahrung bringen sollte, ruft sie mich oder direkt Sie an.« Damit verließ Kugler das Büro und gab sich mit Dick die Klinke in die Hand. Im gleichen Moment schellte das Telefon.

      »Behütuns?«

      »Bestvater hier, Spurensicherung, servus, Herr Behüt­uns. Sie machen wohl auch schon Nachtschicht?« Der Mann schien bereits am frühen Morgen gut gelaunt zu sein, zumindest klang die Stimme so.

      »Grüß Sie. Nachtschicht? Nee, wir haben halt zu tun. Die nächsten Tage wird’s wohl nichts mit Ausschlafen. Aber so, wie Sie klingen, und vor allem so früh, wie Sie anrufen, haben Sie etwas für mich, richtig?«

      »Stimmt. Wir haben etwas gefunden.«

      »Und das wäre?« Er schaltete auf laut.

      »Es geht um die Schuhabdrücke, also um die Profile der Sohlen derer, die im Haus waren. Sie sollten Ihre Schuhe übrigens mal zum Schuster bringen.«

      »Aber deshalb rufen Sie mich nicht an, oder?«

      Dick grinste, er hatte mitgehört.

      Bestvater hatte recht, musste Behütuns sich eingestehen, seine Absätze waren total schräg abgelaufen.

      »Na ja, wir machen uns halt Sorgen um Sie. Erst mal sehen die Absätze nicht so toll aus, und jetzt kommt ja auch der Winter, und wenn Sie da mit solchen Schuhen rumlaufen – da braucht’s nur ein bisschen Schnee, und schon haut Sie’s hin. Sind ja Slicks, die Sie da tragen. Null Grip bei Schnee.«

      »Danke für den Hinweis.«

      Dick hatte den Kopf nach oben gedreht, sah ins Nichts und hörte belustigt zu.

      »Aber jetzt mal zur Sache.« Behütuns wurde schon wieder leicht unruhig.

      »Also. Wir haben alles eingescannt und durch den Computer gejagt. Und der hat uns in dem ganzen Blutgeschmiere das Fragment einer Sohle herausgefiltert und ausgespuckt, die wir nicht im Fundus haben.«

      Dick und Behütuns sahen sich an. »Nicht im Fundus?«

      »Nicht im Fundus. Ohne


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