Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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nickte. »In die Innentasche der Jacke oder ins Hosenbein ... Nein, ich hab ihn nicht durchsucht, es gab ja auch keinen Anlass.«

      P. A. war schon aufgestanden. »Dann sollten wir uns den Kerl schleunigst noch mal vorknöpfen. Vielleicht sogar vorläufig festnehmen. Die sieben Minuten muss er uns schon noch erklären.«

      Behütuns nickte. »Dann aber auch die Klamotten einkassieren, die er gestern getragen hat. Schuhe, Hose, Jacke, Hemd und so, alles, wo etwas zu finden sein könnte.«

      »Gleich?«

      »So schnell wie möglich. Auf seinen Zustand können wir in dem Fall keine Rücksicht nehmen.«

      P. A. nickte Dick zu, der erhob sich jetzt ebenfalls, und sie setzten sich in Bewegung. Mitten im Berufsverkehr.

      Behütuns telefonierte mit dem Staatsanwalt, schilderte die Sach- und Verdachtslage und beantragte zur Sicherheit einen Hausdurchsuchungsbefehl. Sie würden das Haus komplett auf den Kopf stellen müssen.

      ... und lallte rührseliges Zeug ins Telefon.

      Dass er sie liebe und eines Tages zu sich holen werde.

      Juli Zeh, »Neujahr«

      Mittwoch, 13.11.2019, 17:05 Uhr

      Das Telefon klingelte, der Beamte von der Vermittlung.

      »Behütuns, was gibt’s?«

      »Schwarz hier, ich hab eine Dame für Sie.« Luna! Hatte er sie versetzt? Irgendetwas verschwitzt bei der ganzen Aufregung um den aktuellen Fall? Er hatte überhaupt nicht mehr an sie gedacht, er war jetzt im Ermittlungsmodus – dem Modus, der ihre Beziehung schon einmal zerstört hatte.

      »Was will sie?«

      »Sagt sie nicht, scheint ein wenig scheu. Aber es hat mit den Morden zu tun.«

      Also nicht Luna, Gott sei Dank. »Stellen Sie durch.« Es war kurz nach fünf und schon wieder rabenschwarze Nacht – sofern es in der Stadt rabenschwarz werden konnte. Eher mausgraue Nacht, denn der Dunst reflektierte das allgegenwärtige Licht. Gelbgraue Nacht. Sagte man aber alles nicht. Lichtsmog. Im Apparat klackte es.

      »Kriminalpolizei Nürnberg, Sie sprechen mit Kommissar Behütuns, was kann ich für Sie tun?«, meldete er sich formvollendet.

      Am anderen Ende Schweigen.

      »Hallo?« Über den Hörer vernahm er nur ein leises Atmen.

      »Hallo«, kam es zögerlich aus der Leitung, »mein Name ist Kusmann, Ruth Kusmann, wie Kuss und Mann, nur mit einem s.« Das kam wie schon sehr häufig gesagt.

      Behütuns wartete, aber es folgte erneut nur Schweigen.

      »Was kann ich für Sie tun?«

      »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist ...« Wieder dieses Zögerliche.

      Behütuns spürte, dass er ungeduldig zu werden drohte, und zwang sich zur Ruhe. Ungeduld brachte ja nichts. »Ja, das weiß ich auch nicht, solange Sie es mir nicht sagen.« Diese klitzekleine Spitze hatte er sich doch nicht verkneifen können, obwohl er wusste, dass sie kontraproduktiv sein konnte, würde sie sie verstehen. Tat sie aber nicht oder überging sie. Nein, klar, besser wäre gewesen, er hätte die Dame ermuntert oder versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber er konnte nicht aus seiner Haut. Sie rief doch hier an und wollte ihn sprechen, nicht er sie. »Also, was möchten Sie mir sagen?«

      »Ich habe die Nachrichten gehört ... und die Zeitung gelesen heute früh ...« Anscheinend wusste sie nicht, wie anfangen. Das kannte er, viele Personen, die bei der Polizei anriefen, waren erst einmal gehemmt. Er stellte sich vorsorglich auf ein etwas längeres Telefonat ein. Ein zähes.

      »Ja?«

      Sie wusste tatsächlich nicht, wie beginnen. Behütuns notierte sich einstweilen den Namen. Ruth Kusmann. »Von wo aus rufen Sie an?« Vielleicht half das ja, den Redefluss der Frau in Gang zu bringen.

      »Aus Wendelstein, wo ich wohne.«

      »Haben Sie denn eine Beobachtung gemacht oder eine Information für mich?«

      »Es ... ich weiß nicht, ob es wichtig ist ...«

      »Wie schon gesagt, ich auch nicht. Wie ist denn Ihre Adresse dort?«

      Er notierte sie sich. »Gut. Und?«

      »Sie ermitteln doch in dem Fall von Frau Rothlauf und ihrem Sohn.«

      »Ja.«

      »Wissen Sie ...«, das klang jetzt schon ein wenig fester, sie hatte offenbar Mut gefasst. Hatte Name und Adresse genannt und für sich wohl realisiert, dass sie nun nicht mehr zurückkonnte. Behütuns ließ ihr Zeit, seine leise Ungeduld war verflogen.

      »Ich bin eigentlich Nürnbergerin, ich habe am Scharrer-Gymnasium Abitur gemacht. 2006.«

      Behütuns sagte nichts, überschlug nur schnell im Kopf: Sie musste dann so Anfang dreißig sein.

      »Zusammen mit meiner Freundin Emma, also Emilia Panzoni.«

      »Das schreibt sich, wie sich’s spricht?«

      »Ja, Panzoni mit z. Und hartem P vorne.« Es entstand erneut eine Pause. »Aber Emma darf nie erfahren, dass ich bei Ihnen angerufen habe.« Das klang jetzt wie eine Mischung aus Flehen, Bitten und Panik.

      Behütuns hatte sich den Namen notiert. »Da können Sie absolut sicher sein. Hinweise werden bei uns generell vertraulich behandelt, vor allem, wenn der Anrufer ausdrücklich darauf besteht – verzeihen Sie, natürlich die Anruferin.« Er hatte die »Anruferin« vorsichtshalber schnell hinterhergeschoben, man konnte in der heutigen Zeit nie wissen, wie die anrufende Weiblichkeit so gepolt war, vor allem, wenn man die Person nicht kannte. Am Ende war sie eine dieser Genderstalinistinnen, die ihn, wenn er sie als »Anrufer« bezeichnete, als frauenfeindlich und seine Sprache als diskriminierend abstempelte und dann sofort empört, zumindest aber eingeschnappt reagierte. Er empfand diese Frauen immer als fanatisch und missionarisch. Sie – und dazu führten sie penetrant den Gedanken der Emanzipation ins Feld – titulierten als frauenfeindlich, was eigentlich nur ihren verbohrten Überzeugungen widersprach, und forderten humorlos, dass alltagssprachliche Zuwiderhandlungen ein für alle Mal auszumerzen seien, sogar mit Gewalt, wenn es sein musste. avenidas, avenidas y flores ... – an der Berliner Alice-Salomon-Fach­hoch­schule hatte solch gnadenloses Denken dazu geführt, dass das schöne Gedicht von Eugen Gomringer von der Fassade des Unigebäudes hatte entfernt werden müssen – ein Gedicht der konkreten Poesie, der es viel weniger um den Inhalt als vielmehr um den Klang und den Rhythmus der Worte ging. Die Studentinnen in Berlin aber waren auf die Barrikaden gegangen, hatten es als frauenfeindlich angeprangert – und die Hochschulleitung, kaum zu glauben, war vor dieser Argumentation eingeknickt und hatte es übermalen lassen. Kunstzensur, Ende der Freiheit. Für ihn war solches Denken totalitär. Es war seine tiefste Überzeugung, dass solche Aktivistinnen von der Verschiedenheit, die das Normalste auf der Welt ist und unser aller Basis, restlos überfordert waren und sich im Grunde nach Einfachheit sehnten. Nach Einfachheit der Betrachtung, des Denkens und des Sprechens in der und über die Welt. Aber nichts war einfach, alles war kompliziert. Und würde es immer bleiben, Gott sei Dank, denn wie langweilig wäre es denn sonst? Aber er war in Gedanken abgeschweift, nur wegen des »Anrufers«. Die Dame jedoch schien das sprachliche Problem überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, geschweige denn, sich irgendwie daran zu stören.

      »Gut.« Behütuns’ Zusage schien sie zu beruhigen. »Emma und ich, Emma wohnt in Würzburg, also wir treffen uns ab und zu und fahren auch immer einmal wieder zusammen in den Urlaub.« Inzwischen schien die Anruferin auf Linie, ihre Worte kamen zielstrebiger.

      »Vor zwei Jahren waren wir im Oktober gemeinsam auf Mallorca. Wir sind nach Palma geflogen, sind dort in diese alte Eisenbahn gestiegen, ich weiß nicht, ob sie die kennen ...«

      Tat zwar jetzt nichts zur Sache, aber die kannte er. Die berühmte Ferrocarril de Sóller, über hundert Jahre alt, die mit ihren alten Holzwaggons erst durch die Ebene tuckerte und sich dann in herrlichen Serpentinen


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