Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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      Kurz vor vier klingelte das Telefon. Interner Anruf.

      »Behütuns?«

      »Antonia Zimmermann hier, Kollegin von Erwin Best­vater, Spurensicherung.«

      »Hallo, grüß Sie. Was gibt’s Neues?«

      »Wir arbeiten noch auf Hochtouren. Acht Personen sind gerade dran. Wollte Ihnen nur schnell den vorläufigen Zwischenstand geben, Sie haben ja gleich PK.«

      »Ihr seid klasse. Und was habt ihr?«

      »Ihr aber auch«, gab die Frau das Kompliment zurück, »kurz vor eins hatten wir schon sämtliche Abdrücke und Proben, Respekt.«

      »Danke. Also, was gibt’s?« Behütuns hatte nicht viel Zeit, die Presseleute warteten schon unten.

      »Nichts. Bislang keinerlei Spuren von weiteren Personen. Nur von denen, bei denen wir wissen, dass sie drin waren. Rothlauf, Sanis, zwei Ärzte, Sie. Und die Opfer natürlich. Auch keine Tatwaffe.«

      »Nichts gefunden?«

      »Nichts. Nur das vielleicht: relativ klare Fingerabdrücke des Kleinen innen an der Klinke der Haustür. Eindeutig die letzten Spuren, überlagern alles. Offenbar hat er dem Täter die Türe geöffnet.«

      »Keine Fremd-DNA im Haus, nichts?«

      »Nein, bisher nichts, absolut nichts. Nirgends.«

      Behütuns überlegt kurz. »Das heißt, es war niemand außer den bekannten Personen dort. Also doch Rothlauf ...«

      Antonia Zimmermann am anderen Ende atmete tief durch. »Ich wusste, dass Sie das fragen. Könnte aber auch jemand gewesen sein, der das gut geplant hat. Sich entsprechend vorbereitet hat. Mit Handschuhen, Überschuhen, vielleicht sogar Mundschutz. Ganz gezielt, um keine Spuren zu hinterlassen ... wenn ich das vielleicht so ungefragt sagen darf ...«

      »Ja, aber ...« Behütuns sah auf die Uhr. Es war schon zwei nach vier. »Sorry, ich muss in die PK. Danke für die Info.«

      »Bitte, gerne. Wir melden uns umgehend, sollten wir noch etwas finden.«

      »Haaaalt! Eine Frage noch!«

      Zum Glück hatte die Frau noch nicht aufgelegt. »Das Lied. Also die Spieluhr. Haben Sie das schon rausgekriegt?«

      Frau Zimmermann am anderen Ende lachte und begann eine Melodie zu summen. »Erkennen Sie’s?«

      »Nee. Was ist das für ein Lied?«

      »Der Sandmann. Ein Schlaflied nach einem Gedicht von James Krüss.«

      »Mein Urgroßvater und ich? Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde – der?« Er hatte diese Bücher als Kind von seiner Tante bekommen und sie geliebt.

      »Ja, der. Hat noch fünfzig andere geschrieben. Und Hörspiele und ...«

      Behütuns unterbrach die Dame. »Der Sandmann, sagen Sie? Kenn ich nicht. Sie?«

      »Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird, und die Lampe ausgemacht wird, zieht der Sandmann durch die Stadt. Und er trägt auf seinem Nacken einen riesengroßen Packen, wo er Träume drinnen hat«, zitierte Frau Zimmermann von der Spurensicherung. »Aber gekannt hab ich das Lied auch nicht, nein. Dafür eine Kollegin, und den genauen Wortlaut des Textes haben wir dann nachgeschaut.«

      »Könnten Sie mir den Text schicken?«

      »Mach ich.«

      Das Gespräch war beendet.

      •

      »Entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich habe noch den jüngsten Bericht der Spurensicherung abgewartet«, eröffnete Behütuns die PK völlig unvorbereitet. Was sollte er denen jetzt erzählen? Dass es keine verwertbaren Spuren gab? Keine verdächtigen Beobachtungen? Dann fiel der Verdacht unwillkürlich auf den Hausherrn Benedikt Rothlauf, die Journalisten konnten ja eins und eins zusammenzählen. Vor allem würde damit auch das Hotel in die Schlagzeilen kommen, in keinem positiven Kontext – und die hatten sicher Anwälte. Gute. Konnte er das verantworten? Er verließ sich auf sein Gefühl, und das sagte Nein. Also beschloss er, auch so zu handeln.

      »Lassen Sie mich Ihnen einen kurzen Überblick über den Ablauf der Tat geben, so wie ihn Auffinden und Zustand der Opfer, die vorläufigen Ergebnisse von Spurensicherung und Gerichtsmedizin sowie die Aussagen der Rettungskräfte, die vor Ort waren, nahelegen.« Es wurde still im Raum, die Journalisten waren spürbar gespannt, keiner wollte etwas verpassen. Fotoapparate blitzten und klickten, Kameras liefen.

      »So wie sich die Tat bisher darstellt ...« Er skizzierte kurz den groben Ablauf, ohne zu viele Einzelheiten zu nennen, und während er berichtete, erkannte er den Reporter der BILD, die heute früh schon groß mit dem Aufmacher »Messermord in Nürnberg!« trompetet und ältere Fotos der zwei Opfer gezeigt hatte, mit Alibibalken über den Augen. Das war deren miese, so oft schon praktizierte Masche, hart an der Strafbarkeitsgrenze: Die Balken, die eigentlich ein Identifizieren der Personen unmöglich machen sollten, waren so schmal, dass jeder, der sie kannte, Frau und Kind erkennen konnte. Zweifelsfrei. Wie waren diese »Journalisten« nur wieder an die Bilder gekommen? Wahrscheinlich hatten sie, wie immer und immer wieder, Verwandte, Freunde oder Nachbarn belästigt, bedrängt und ihnen damit gedroht, grausame Fotos vom Tatort oder von den entstellten Opfern abzudrucken, sollten diese keine »normalen« Bilder der beiden herausrücken. Funktionierte immer, obwohl die Redaktion nie derartige Tatortfotos besaß. Widerlich. Wie konnten solche Leute abends noch in den Spiegel schauen? Er musste bei der Sache bleiben.

      »Nein, wir haben bisher keinen Hinweis auf den oder die Täter.«

      »Natürlich haben wir, soweit wir sie gestern Abend oder heute antreffen konnten, sämtliche Anwohner befragt.«

      »Nein, wir haben auch noch keinen Hinweis auf ein mögliches Motiv.«

      »Nein ...«

      »Ja ...«

      »Nein ...«

      »Nein ...«

      »Nein, ich sagte Ihnen doch schon ...«

      »Nein ...«

      Behütuns reagierte zunehmend gereizt auf die immer neuen Fragen, die er den Journalisten nicht beantworten konnte. Oder wollte. Auch heute beendete er die Pressekonferenz wieder, indem er sich nach knapp zehn Minuten einfach erhob, den Anwesenden einen schönen Abend wünschte, sie auf die nächste PK vertröstete und den Raum verließ.

      •

      Er fühlte sich leer und übernächtigt, aber als er an Dr. Kinkel, den Arzt aus dem Klinikum, dachte, ging es ihm gleich wieder besser. Es gab nichts zu jammern, andere mussten mehr schaffen am Stück – und trugen dabei auch noch Verantwortung für Menschenleben. Sie saßen wieder einmal im Büro.

      »Über vierundzwanzig Stunden, und noch kein echter Hinweis«, fasste Behütuns den Stand der Dinge zusammen.

      »Na ja«, intervenierte P. A, »wir haben die Spieluhr. Rothlauf hat sie nicht gekannt, die anderen Spieluhren, die im Haus waren, aber schon. Ziemlich genau sogar. Also ist sie entweder neu – oder der Mörder hat sie mitgebracht. Und warum? Er will damit etwas sagen. Und wem? Rothlauf, oder?«

      »Oder uns«, warf Dick ein. »Haben wir eigentlich schon den Text des Liedes?« Er war noch nicht gekommen. »Können wir aber auch selbst googeln.« Er hielt inne, dachte einen Moment nach. »Und was, wenn Rothlauf uns etwas vorspielt? Er hatte immerhin rund acht Minuten. Das heißt, er hatte, selbst wenn wir ihm noch eine Minute für das Aussteigen aus dem Taxi, den Weg zum Haus und das Aufsperren der Tür abziehen, immer noch sieben Minuten. Verdammt viel – und er hätte theoretisch ein Motiv: die fünfhunderttausend Euro aus der Lebensversicherung. Ohne Frau und Sohn wäre er frei, komplett frei, und ein gemachter Mann – vorausgesetzt, seine Frau stirbt auch noch. Anders gesagt: Es könnte auch sein, dass er das sauber und minutiös geplant hat. Wir müssen nur herausfinden, warum. Und das Messer finden.«

      »Und die Handschuhe«, ergänzte Behütuns.

      »Hat


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