Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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Nein. Aber ich muss es wohl noch mal sagen: Wir stehen erst ganz am Anfang. Eigentlich noch vor dem Anfang. Aber Sie können sicher sein: Wir ermitteln in alle Richtungen. Und werden Sie ständig informieren.«

      »Die Tatwaffe? Auch hier muss ich Sie leider auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vertrösten. Der Notarzt hat mir gegenüber zwar einen Verdacht geäußert, aber bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nur Fakten präsentiere, keine Vermutungen.«

      »Man hat Ihnen gesagt, die Tatwaffe sei ein Messer? Ja, dann wissen Sie es ja schon. Es ist noch nicht gesichert, aber der Arzt vor Ort äußerte diese Vermutung.«

      »Nein, die Spurensicherung ist noch vor Ort, wir haben noch keine weiteren Erkenntnisse.«

      »Ein Raubüberfall? Ich sagte doch bereits, wir wissen noch nichts. Absolut nichts.«

      »Ob etwas auf eine Beziehungstat hindeutet? Ich kann mich nur wiederholen.«

      Nach einer Viertelstunde beendete Behütuns die Pressekonferenz genervt. »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, Ihnen morgen schon etwas mehr sagen zu können. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.« Damit erhob er sich und verließ den Raum, flüchtete sich ins Büro, wo Dick und P. A. auf ihn warteten.

      •

      »Dick, du rauchst doch ab und zu?«

      Dick nickte, schüttelte dann aber missbilligend den Kopf. »Ja, aber du willst doch jetzt nicht wirklich ...?«

      »Gib her.«

      »Tu’s nicht.«

      »Hopp, her damit.«

      Dick kramte ein Päckchen Tabak aus seinem Schreibtisch und warf es Behütuns zu. »Papers sind drin.«

      Eine Minute später stand Behütuns am Fenster und blies den Rauch in die nächtliche Stadt. Um vier war es schon dunkel gewesen und der ganze Tag nur grau, bis Weihnachten würde es täglich noch früher dunkel werden – und morgens noch später hell. Die Welt rauschte unaufhaltsam in die Nachtseite ihrer Umlaufbahn, und es gab kein Entrinnen. Nicht, wenn man hier war, auf dieser Seite der Kugel. Es würde erst wieder Mitte Februar so hell werden wie jetzt. Wenigstens regnete es nicht mehr so stark. Wie hielt man das nur aus, Jahr um Jahr? Zittrige Hände hatte er gehabt, als er sich die Zigarette drehte, aber er hatte es noch gekonnt. Halbwegs, das Ding war ziemlich krumm geworden. Wie lange hatte er nicht mehr geraucht? Vier Jahre? Oder fünf? Er wusste es nicht genau. Nicht einen einzigen Zug. Nach dem dritten Zug schon spürte er das Kribbeln in den Füßen und wusste sofort: Er musste vorsichtig sein, beim Rauchen war er gefährdet.

      •

      Fortinger, der Chef der Nürnberger Polizei, hatte Behütuns noch vor der Pressekonferenz alle Unterstützung zugesagt. »Machen Sie, was Sie für richtig halten, aber kommen Sie schnell zu Ergebnissen«, waren seine Worte gewesen. Nach einer ersten Besprechung mit Dick und P. A. im Anschluss an die Pressekonferenz forderten sie noch am selben Abend zehn Streifenpolizisten an, die umgehend damit beginnen sollten, sämtliche Nachbarn der kleinen Reihenhaussiedlung zu befragen, ob ihnen etwas aufgefallen sei. Morgen, pünktlich um fünfzehn Uhr, sollten sie mit ihren Ergebnissen aufschlagen. War ein blödes Verb, das wusste er, aber er hatte es benutzt. Und schämte sich schon im selben Moment dafür. Aufschlagen kann man ein Buch, ein Ei oder hart und sich wehtun. Welcher Knallkopf hat nur diese bescheuerte Redensart erfunden? Aber alle führten sie im Mund, plapperten sie nach und fühlten sich toll dabei. Modern. Behütuns nicht. Es würde ihm nicht wieder passieren. Großsprecherisch hatte es geklungen, gar nicht seine Art. Er hatte eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, dass es dringend war und dass sie wenig Zeit hatten für ihre Befragungen. Sollte einer aber etwas Wichtiges in Erfahrung bringen, möge er sich doch bitte umgehend bei ihm melden, hatte er noch angefügt und gehofft, dass das dem »Aufschlagen« seine Peinlichkeit nahm.

      Und die Beamten sollten die Umgebung absuchen. Auch den Friedhof. Nach Spuren aller Art, nach der Tatwaffe, nach was auch immer.

      •

      Die drei saßen schweigend da, Behütuns, Dick und P. A. Kurz nach zwanzig Uhr. Hatten Bilder im Kopf, die nicht guttaten.

      »Hast du mal die Liste der Kollegen, die die Nachbarschaftsbefragung machen?« P. A. reichte sie Dick. Der ging die Namen durch, las sie halblaut: »Niederwald, Pafenzinger, Rothemund, Liebermann, Burgmair, Trottmann, Schwertler, Kloster, Kugler, Schwarz. Ich werd die gleich noch informieren, dass sie das mit dem Messer wissen. Ist ja vielleicht aufgefallen, wenn einer mit so nem Ding durch die Straße gelaufen ist.«

      »Hast du grad Kugler gesagt?«

      Dick nickte. »Der steht da drauf, ja.«

      »Ist das dieser Runde?«

      »Rund?«

      »Na ja, dieser Obelix-Typ, der Kuglerde halt.«

      »Ach so. Ja, das ist der, ich würde sagen, ein guter, gedrungener Doppelzentner.«

      »Ist der nicht bei der Landpolizei draußen bei Erlangen ... Uttenreuth?«

      »War er vielleicht mal, ja, aber seit mindestens zwei Jahren ist er hier bei uns in Nürnberg. Wieso, kennst du ihn?«

      »Ja, ich hatte schon mal mit ihm zu tun.«

      »Gute Erinnerungen?«

      »Gute, ja. Weißt duʼs nicht mehr? Damals die Geschichte in Erlenstegen und mit dem Golfplatz ...?«

      Jetzt fiel es Dick wieder ein. »Na ja«, schloss Behütuns, wir sehn ihn ja morgen.« Kugler – wie war noch mal sein Vorname gewesen? Richtig: Dagobert. Wie man so heißen konnte. Obwohl, er hieß ja auch Behütuns, er brauchte gar nichts zu sagen. Und auch noch Friedemann. Dem Kugler, daran erinnerte er sich noch, war es bei der Sitzheizung im Wagen genauso gegangen wie ihm: Beide hatten das Gefühl gehabt, sich auf eine vom Vorgänger noch warme Klobrille zu setzen. Es schüttelte ihn innerlich, und er verdrängte den Gedanken, hier gab es Wichtigeres.

      Gegen einundzwanzig Uhr verließen sie das Präsidium, heute konnten sie nichts mehr tun.

      Als Behütuns daheim noch einmal in seinen Rechner schaute, fand er eine weitere Mail von Luna.

      Lieber, lieber Friedo, am Donnerstag (21.11.) soll das Wetter so halbwegs werden. Es bleibt dabei, gleich früh halb neun? Ich kann ja nur bis mittags. Kleingeschaidter Höhe? Oder hast du einen anderen Vorschlag? Ich geh auch jeden Weg von dir. Ich freu mich so ... und bin sooooo nervös. Ich drück dich, deine Luna.

      Um halb zwölf endlich, zwei Biere später, versuchte er zu schlafen.

      Welcher Tag ist heute? Egal. Hauptsache, es ist nicht schon wieder gestern.

      Saša Stanišić, »Herkunft«

      II

      Mittwoch, 13.11.2019

      Sein Handy klingelte, Behütuns schreckte hoch. 0:37 Uhr zeigte es an.

      »Ja?«, grunzte er ins Telefon. Entweder war es wichtig oder saublöd.

      »Hummel hier, grüß Sie, Herr Behütuns. Oder besser: guten Morgen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich um die Zeit noch anrufe?« Die Stimme wirkte fröhlich. Um die Zeit! Es war die Ärztin aus der Erlanger Gerichtsmedizin. Hatte er überhaupt schon geschlafen? Behütuns war jedenfalls schlagartig hellwach.

      »Hallo, Frau Dr. Hummel, nein, nein, Sie stören nicht. Überhaupt nicht. Sagen Sie bloß, Sie arbeiten noch?«

      Frau Dr. Hummel am anderen Ende lachte. Er sah sie förmlich vor sich mit ihren leuchtenden Augen. Er hatte schon mehrfach mit ihr zu tun gehabt, war immer wieder eine Freude gewesen – die Zusammenarbeit, nicht der Anlass.

      »Aber natürlich, wo denken Sie hin. Meinen Sie, wir warten bei so einem Fall bis morgen? Ich weiß doch, dass es Ihnen pressiert.« So jung sie auch war, schien sie ihm doch schon reichlich hartgesotten. Bei einer Leiche dieses Zustands, die sie ja auch noch hatte sezieren müssen – und wahrscheinlich hatte sie sich gerade erst die Handschuhe abgestreift –, so locker zu


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