Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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      Sein schönes Gefühl war schlagartig verflogen. Er hatte den ganzen Tag auf Wolke sieben geschwebt –­ na ja, auf Wolke sechs. Oder fünf, aber immerhin. Oder doch sechs? Egal. Er war auf dem Weg ins Präsidium heute früh Luna über den Weg gelaufen, eine alte Beziehung. Große Liebe damals. Wie lange war das jetzt schon her? Lange, er wusste es nicht mehr genau. Verdrängt. Aber sie waren sich sofort wieder in die Arme gefallen. Die letzten zwei Jahre hatten sie sogar zusammengewohnt damals, und dann ... na ja, war er wieder allein gewesen. Sie hatte einen anderen kennengelernt irgendwie irgendwo, für ihn wie aus heiterem Himmel – und weg war sie. Höchstens ein Jahr später schon hatte sie geheiratet. Und dann, vergangenen Sommer, hatten sich, nach mindestens zehn Jahren, wieder einmal ihre Wege gekreuzt, zufällig, in einem Café, und es war Freude pur gewesen, auf beiden Seiten. Nein, mehr als Freude. Leider hatte sie gleich wieder weggemusst, aber sie hatten vereinbart, sich einmal zu treffen. »Wir müssen«, hatte sie gesagt. Bald, aber nicht in einem Café. Hatte überlegt, ob du mit mir rausgehen würdest? Statt in einem Café sich an der Tasse festhalten zu müssen ... einen ausgedehnten Spaziergang? Mit etwa diesen Worten hatte sie es im Sommer vorgeschlagen, in dem Mailverkehr, der sich zwischen ihnen entsponnen hatte. Und irgendwann hatte sie auch sehr charmant, aber eindeutig gespielte Zweifel angemeldet: Wenn wir uns dann eines Tages gegen­übersitzen, kommt bei mir wahrscheinlich die Scheu ... was falsch zu machen ... Schade, dass er die Mails nicht mehr hatte, nach einem Rechnerabsturz waren sie fort gewesen. Aber so ungefähr hatte er sie noch im Kopf. So etwas schreibt man doch nur, wenn ... na ja, wenn man sich dem anderen zumindest nahe fühlt. Sehr nah. Oder bildete er sich das alles nur ein? Spielte ihm seine Erinnerung einen Streich? Immer diese Zweifel. Im Berufsleben waren sie ja hilfreich, geradezu Erfolgsgaranten, aber im Privaten? Wenn er sich im Moment des Erlebens so glasklar sicher war – diese Zweifel aber alles wieder zernagten, kaum dass er daheim war oder Zeit hatte, darüber nachzudenken? Wenn sie nichts verlässlich ließen? Manchmal zweifelte er an sich selbst, aber so war er, er musste damit leben.

      Doch dann war ohnehin alles am Termin gescheitert. Einmal war etwas mit ihrem Mann, dann wieder mit den Kindern, mal was mit der Schule, dann war sie im Urlaub, dann konnte er nicht, war ein paar Tage auf Lehrgang, oder die Arbeit ließ es nicht zu, und irgendwann war sie nur noch »verhindert«, der E-Mail-Verkehr ebbte ab, wurde spärlicher, sachlicher, und sein Gefühl auch. Schließlich war der Kontakt wieder eingeschlafen, jeder ging seiner Wege, so wie in den Jahren zuvor. War auch besser so, sagte der Verstand.

      Bis heute früh. Kaum hatten sie sich erblickt, waren sie sich auch schon wieder in die Arme gefallen. Sie ihm. Lang und innig, als ob sie sich lange verloren und endlich wiedergefunden hätten. Ja, da war noch was, da war längst noch nicht alles vorbei. Beweise? Herzklopfen pur. Und ihre Augen. Und dann, als sie ihn ansah, kamen ihr die Tränen, liefen ihr übers Gesicht. Was war da los? Irgendwas war, das hatte er gespürt, aber er wusste nicht, was, konnte die Tränen nicht deuten, ihre Aufgewühltheit. »Komm«, hatte er gesagt, »lass uns jetzt gleich etwas ausmachen, dass wir uns die Zeit endlich mal nehmen und in Ruhe reden.« Er hätte sofort mit ihr losziehen können.

      Donnerstag nächste Woche, früh um halb neun, hatten sie vereinbart, auf der Höhe bei Tauchersreuth, dort hinter Kleingeschaidt – Glahgschah, wie die Leute hier sagten –, um eine Runde über Beerbach und Neunhof zu laufen, nicht zu weit weg von Nürnberg.

      Kaum war er im Büro gewesen, war von Luna auch schon eine Mail gekommen. Sprang ihn an im Posteingang. Wollte sie wohl schon wieder absagen? Im Sommer hatte sie, als sie sich verabredet hatten, noch in ihrer so unnachahmlich warmen und direkten Art geschrieben: Ich freu mich, und die Scheu ... aaaaahhh ... das sehen wir dann. Notfalls bin ich zwei Stunden nervös und rede blödes Zeug und muss hinterher duschen. Aber machen müssen wirʼs! Wie liebenswert und gewinnend. Mit klopfendem Herzen öffnete er die neue Nachricht. Donnerstag halb neun, und diesmal kommt uns nichts dazwischen, ja? Ich freu mich so ... es ist so wichtig! Also doch Wolke sechs? Fünfeinhalb. Er hatte sich erst einmal einen Kaffee geholt. Und dann fast eine halbe Stunde lang nur geträumt, er konnte gar nichts arbeiten.

      Klaus, Scala, Bolle, Luna, Date – Behütuns war bei seinem Wagen angelangt, klemmte das Blaulicht aufs Dach und schlängelte sich durch den langsam einsetzenden Berufsverkehr. Eigenartig, wie viele Menschen so früh schon Feierabend hatten. Oder machten.

      Er raste aus der Stadt hinaus, am Flughafen vorbei und bog ab nach Kraftshof. Bis zum Adler, dann rechts und ein paar Hundert Meter später schräg links zum Friedhof hin. Ein Holzbauunternehmen, ein kleiner Voltigierplatz, dann schon die Friedhofsmauer. Die schmale Sackgasse, die hier ins Knoblauchsland führte, war bereits abgesperrt. Sanitätsautos, Notarzt, zwei Streifenwagen. Überall blinkte es blau im Regen, Nachbarn standen vor den Haustüren oder am Fenster. Es war eine kleine Siebzigerjahre-Siedlung, die jetzt im November ziemlich trostlos wirkte. Acht Reihenhäuser, 1 a–h, vier links, vier rechts, jeweils Wand an Wand gebaut. Eines wie das andere, nicht einmal versetzt gegeneinander, zwei lang gezogene, schnurgerade Fronten, drei Stufen hi­nauf zu den Eingängen, davor vier Meter Platz bis zur Straße, die Mülltonnen, ein Rasenstück, selbst für das Geschäft eines Hundes zu klein, aber die konnten ja ins Knoblauchsland dahinter auf die Äcker – nein, durften sie nicht, vorn hatte er ein Schild gesehen mit »Anleinpflicht«. Vereinzelt standen Fahrräder vor den Häusern und Kinderanhänger.

      Behütuns konnte sich sofort vorstellen, wie es dort drin aussah: Links oder rechts neben dem Eingang ein schmales WC, dann eine Treppe hinauf, darunter die in den Keller, ein Garderöbchen, übervoll behängt, dann die Küchentür, geradeaus in ein Wohnzimmer, bodentiefe Fenster in einen kleinen, umzäunten Garten, die Küche mit Fenster vorne raus zur Sackgasse, halb offen hin zum Wohnzimmer. Einbauküche, alles eher klein. Im Wohnzimmer an der Wand zum Nachbarn der Fernseher, ein Sofa, zwei Sessel, ein Tischchen, an der gegenüberliegenden Wand ein Regal mit Büchern, Nippes, Zeugs, vielleicht Trockenblumen. Die Treppe hoch drei kleine Zimmer, ein Bad, manchmal noch der Dachboden ausgebaut, je nach Anzahl der Kinder – Standardhäuser von der Stange. Seit Jahrzehnten wurde so gebaut, überall gleich, Triumph architektonischer Fantasie. Immerhin lagen die Häuser ganz schön. Nach hinten raus aus dem linken Block der Blick auf Äcker und die Wehrkirche St. Georg, zwar neu errichtet nach den Bombardement des Zweiten Weltkriegs, doch trotzdem wirkten die Gemäuer wie sandsteinernes Mittelalter pur, weiter drüben der Blick aufs Neunhofer Schloss und weit übers brettflache Knoblauchsland, aus dem anderen Block über Äcker bis hin zum Wald. Er kannte die Gegend, doch heute war nicht viel davon zu sehen. Schon Beinahedunkelheit, Regen und Nebel. Aber irgendwo dort hinten, bei Neunhof, stand ein Kirschhain, eigentlich ungewöhnlich hier fürs Knoblauchsland. Zehn, zwölf alte Kirschbäume in zwei Reihen. An den Hain hatte er schöne Erinnerungen. Mit Luna, die Kirschen so liebte. War lange her.

      Er hatte seinen Wagen an der Friedhofsmauer geparkt, ging durch den Regen hinüber. Arhythmisch huschten die Blaulichter über die Fassaden, glänzten im Nass des Sträßchens. Hinter ihm startete dröhnend ein Flugzeug, der Flughafen war nicht sehr weit weg, vom Flieger sah man genauso wenig wie vom Knoblauchsland. Aber es wirkte ziemlich bedrohlich, das Dröhnen im Nebel. Er musste zum dritten Haus rechts.

      •

      Ihn empfing ein Blutbad. Blut im Gang, Blut an den Wänden, Sanitäter dazwischen, die sich über die Körper beugten, der Notarzt. Die Versorgung der Opfer ging vor, die Spurensicherung musste noch warten – Katastrophe für deren Job. Behütuns blieb in der Eingangstür stehen und sah hinein. Im Gang lag ein Kind, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, schätzte er. Der Junge. In einer riesigen Blutlache. Zwei Sanis kümmerten sich um den Körper, schüttelten den Kopf, als Behütuns sie ansah. Das Kind war tot. Die Wohnzimmertüre stand offen, dort konnte er eine Frau liegen sehen, der Notarzt über ihr, hantierte, assistiert von einem Sani, legte eine Infusion. Trotz all der Geschäftigkeit herrschte ein eigenartiges Schweigen. Der Notarzt blickte kurz auf. Nickte deprimiert auf Behütuns’ fragenden Blick hin, dann zuckte er mit den Schultern. Sie würden alles versuchen, bedeutete die Geste, aber seine Hoffnung war nicht sehr groß. Behütuns spürte, wie seine Knie weich wurden. Er sehnte sich nach einer Zigarette, obwohl er seit Jahren nicht mehr rauchte. Oder nur selten. Seltsam, wie in manchen Situationen der Körper nach Nikotin schreit, wenn man einmal geraucht hat.

      Keine Minute später trugen sie die Frau auf der Bahre hinaus, verbundener Kopf, der Sani hielt


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