Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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      »Schießen Sie los.« Schon wieder so eine bescheuerte Formulierung. Was war bloß mit ihm los? Frau Dr. Hummel schien sich nicht daran zu stören, aber sie wurde ganz sachlich.

      »Also, der kleine ...«

      »Max.«

      »Max Rothlauf, ja. Ich habe bei dem Kleinen sieben Stiche festgestellt ...«

      »Können Sie etwas sagen über die Art des Messers?«, unterbrach Behütuns sie.

      »Einseitig geschliffene Klinge, Typ besseres Küchenmesser, Rücken gerade, vorne spitz zulaufend, etwa dreißig Zentimeter lang, am Schaft viereinhalb Zentimeter stark. Genaueres kann ich Ihnen noch nicht sagen, dazu müssen Sie mir den morgigen Tag schon noch geben. Ist etwas komplizierter. Beziehungsweise den heutigen.«

      Behütuns ging nicht darauf ein. »Was meinen Sie mit ›Genaueres‹?«

      »Mit welcher Wucht die Stöße ausgeführt wurden. Wie viel das in Kilopond ist, meine ich, das kann ich noch nicht sagen, da müssen Sie noch etwas Geduld haben. Ist nicht ganz so leicht festzustellen bei einem so jungen Körper. Dazu muss ich erst die verschiedenen Knochendichten messen, um exakte Rückschlüsse ziehen zu können. Und in welcher Reihenfolge sie ihm zugefügt wurden, welcher tödlich war und so.«

      Kilopond, dass sie so einen altertümlichen Begriff noch benutzte, dass sie ihn überhaupt kannte.

      »Aber es waren sieben Stiche. Oder Schnitte. Einer quer übers Gesicht, so wie es aussieht von links unten nach rechts oben, hat die Wange aufgeschlitzt, die Nase, das Auge bis über die Stirn, ein zweiter, dies ein Stich, ging seitlich in den Hals, linke Seite, hat die Schlagader durchtrennt und den Kehlkopf, ein weiterer führt durchs Ohr bis tief in den Schädel, einer kam von oben am Kopf entlang in die Schulter, hat das rechte Ohr fast vollständig abgetrennt, ein weiterer, ebenfalls von oben, ist durchs Schlüsselbein unter das Schulterblatt und tief in die Lunge, und zwei schließlich von hinten in den Rücken, wahrscheinlich von oben her auf den liegenden Jungen ausgeführt. Wirkt auf mich blindwütig, fast wie Raserei.«

      Behütuns versuchte augenblicklich, die Bilder im Kopf loszuwerden. Aber ihn interessierte etwas anderes: »Das heißt, er hat seinem Mörder in die Augen gesehen, als der erste Stich kam?«

      »Schnitt. Das kann ich Ihnen nicht sagen, ist aber möglich, ja, wenn Sie den Schnitt über Backe, Nase und Auge meinen.«

      Behütuns dachte kurz nach. »Und er war sofort tot?«

      »Nach dem dritten ganz sicher, definitiv, ja, warum fragen Sie?«

      »Weil Herr Rothlauf, sein Vater, gesagt hat, sein Sohn hätte noch geröchelt, als er ihn fand.«

      »Ich glaube, das können Sie ausschließen, allenfalls ist durch eine Bewegung des Leichnams Restluft aus der Lunge entwichen, das kann passieren, wenn man den Körper bewegt oder hochnimmt. Nach solchen Stichen röchelt man nicht mehr, höchstens ein paar Sekunden, aber nach denen in den Rücken überhaupt nicht mehr. Zwei davon gingen ins Herz. Allerdings muss es ziemlich gespritzt haben, könnte ich mir denken. Ich weiß ja nicht, ob da eine Wand in der Nähe war, aber Blutspritzer sollten bis in eine Entfernung von ein, vielleicht sogar zwei Metern zu finden sein.«

      »Sehr appetitlich, danke. Das wird die Spurensicherung feststellen.«

      »So viel einstweilen zu Max. Mehr morgen.«

      Behütuns bedankte sich, doch dann fragte er noch: »Sagen Sie, können Sie denn nach so einer Untersuchung überhaupt schlafen?« Immerhin ging es schon auf ein Uhr zu, und er selber schob gerade wieder aktiv die Bilder vom Nachmittag beiseite. Klappte aber nicht.

      Da lachte sie schon wieder. »Schlafen? Kann ich sowieso nicht. Ich habe einen Säugling im Haus, der kommt alle zwei bis drei Stunden – und jetzt hat er eh Hunger, wenn ich heimkomme.«

      Behütuns war ehrlich erstaunt. »Sie sind Mutter geworden? Meinen Glückwunsch! Davon hatte ich ja gar keine Ahnung.«

      »Ist ja auch kein Wunder, Sie melden sich ja bloß, wenn es Schreckliches zu tun gibt.«

      Behütuns überging die Spitze, sie hatten ohnehin nur beruflich miteinander zu tun. Aber er rechnete schnell nach. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Ja, schon über ein Jahr. Also hatte er zumindest die Schwangerschaft nicht übersehen. Oder vielleicht doch?

      »Wie alt ist denn die Kleine schon ... oder ist es ein Er?«, fragte er schnell.

      »Ein Er. Regulär vier Monate, aber eigentlich schon sechs.«

      »Wie ...« Behütuns verstand nicht.

      »Unser kleiner Paul kam zwei Monate zu früh.«

      Behütuns wusste nicht, was antworten. Mit Kindern kannte er sich nicht aus, da hatte er keine Erfahrung. Er wollte nicht wissen, wie hilflos er ausgesehen hätte, hätte ihm jemand einen Säugling auf den Arm gelegt. So etwas Kleines und Zerbrechliches. Das dann vielleicht auch noch sabberte. Nein, er wollte das überhaupt nicht wissen. »Ja, dann noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch – und jetzt gehen Sie heim zu Ihrem Kleinen, und zwar auf der Stelle. Das ist ein Befehl.« Das war der Ton, den er beherrschte. Leicht burschikos, ein bisschen künstliche Distanz, aber immer mit einer Spur Humor; und doch spürbar auch einer Portion Herzlichkeit. So, dass ihm keiner böse sein konnte.

      »Ja, danke. Ich melde mich dann, sobald ich Genaueres habe. Gute Nacht.« Es klackte am anderen Ende.

      •

      Die Nacht war kurz gewesen, und Behütuns hatte nur flach geschlafen. Kein erholsamer Schlaf. Um sechs Uhr beendete er das Bemühen und schaute noch vor sieben im Klinikum Nord vorbei, sprach mit Dr. Kinkel, dem Stationsarzt der Not- und Unfallchirurgie. Sah ziemlich verorgelt aus, dieser Doc, war aber auch schon sechsundfünfzig Stunden am Stück im Dienst, wie Behütuns erfuhr. Personalmangel, Einsparungen. Auch hier führten längst die Kaufleute das Regiment, es ging nur noch um das Wohl der Finanzen, längst nicht mehr um das der Menschen. Diktat der Wirtschaftlichkeit, kranke Welt. Da wünscht man sich die Verantwortlichen sofort unters Messer der Übernächtigten. Er selber hatte ja wenigstens ein paar Stunden geruht.

      »Wie es Frau Rothlauf geht? Sie liegt auf Intensiv im künstlichen Koma.«

      »Wird sie es schaffen?«

      Der Arzt machte ein skeptisches Gesicht. »Das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner sagen. Und«, er überlegte einen Moment, als suche er nach der richtigen Formulierung, »es kann auch keiner sagen, ob es für die Frau gut ist, wenn sie wieder zurückkommt. Oder für ihre Lieben. Sie hat Verletzungen im Bereich des Stirnlappens sowie am Hinterkopf im Bereich der Wirbelsäule. Ein Stich ging schräg durchs Auge ins Hirn, einer hat ihr das Gesicht aufgeschlitzt. Der Täter muss getobt haben, wie von Sinnen. Vermute, ein Rechtshänder, aber ich bin kein Gerichtsmediziner. Wir haben Splitterbildung und Einblutungen ins Hirn. Die Splitter haben wir ihr heute Nacht entfernt, aber welche Auswirkungen die Verletzungen auf die Funktionsweise des Gehirns haben, wissen wir noch nicht.«

      Der Arzt sah auf die Uhr, er schien es eilig zu haben, trotzdem ließ er Behütuns davon nichts spüren und nahm sich Zeit. Bewundernswert. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »im Bereich der Stirn verortet man im Allgemeinen die Emotionen, Empathie und so. Sozialverhalten. Wir haben schon Verletzungen hier gehabt, die waren bei Weitem nicht so gravierend, aber in ihrer Folge katastrophal. Die Menschen waren überhaupt nicht mehr zu sozialen Beziehungen fähig. Allerdings hatten wir auch schon Patienten mit intensiveren Verletzungen, bei denen hinterher gar nichts war, die waren wieder völlig normal. Kann man also nichts sagen. Ich zumindest nicht.«

      »Und die anderen Verletzungen?«

      »Einzelheiten oder nur grob?«

      »Wenn Sie mir die Einzelheiten ersparen können ...?« Die Schilderungen von heute Nacht blubberten schon wieder aus der brüchigen Versenkung, und die konkrete Vorstellung eines Stichs ins Auge verkrampfte Behütuns den Magen, sein Kaffee begann bereits zu rebellieren.

      Dr. Kinkel zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht hat die Frau Glück –, aber sie wird zeitlebens entstellt sein. Im Gesicht


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