Sandmann (eBook). Tommie Goerz

Sandmann (eBook) - Tommie Goerz


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zu Max ...«

      »Und die Musik, also die Spieluhr?«

      »Wie?«

      »Lief sie noch?«

      »Weiß nicht.« Er schien nachzudenken.

      »Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?«

      »Sie war ja nicht da. Also hat nicht reagiert. Dann nicht einmal mehr mit den Augen. Und ich hab überall nur das Blut gesehen ... An der Tür, am Sessel, drüben an der Wand ... an den Fenstern. Spritzer, Schleifspuren ...«

      »Haben Sie jemanden gesehen?«

      Rothlauf schnaufte nur.

      »Als Sie gekommen sind vielleicht? Auf der Straße? Auf dem Gehsteig? Als Sie aus dem Taxi gestiegen sind? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? War etwas ungewöhnlich? Oder haben Sie vielleicht etwas gehört?«

      Er schüttelte den Kopf. »Der Dicke stand am Zaun, der Nachbar von gegenüber. Noch ohne Schirm, wie ich gekommen bin. Herr Eckl. Der steht oft da. Seit wir hier wohnen. Seit fast sechs Jahren. Manchmal Stunden. Fast immer ohne Jacke, auch im Winter.«

      Behütuns sah den Nachbarn im schrägen Licht der Laterne, halb beschattet vom Regenschirm. Stand da im Trainingsanzug, der hatte wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel, so wie er aussah. Ballonseide, hellblau-rosa-grün-weiß, schräg zusammengesetzte Felder, überweite Jacke, Design der Achtziger. Hatte sicher noch nie ein Training gesehen, der Anzug. Berliner Designstudenten hätten sich die Finger danach abgeschleckt, da war er sich sicher.

      Der Arzt klopfte ans Fenster, hielt seinen – inzwischen hatte er sich offensichtlich irgendwo einen organisiert – Regenschirm schräg gegen den Wind und schüttelte missbilligend den Kopf. »Muss das so lange sein? Ich denke, das reicht jetzt.«

      Behütuns nickte. »Für den Moment bin ich fertig.« Er überließ Rothlauf dem Arzt. Ins Haus konnte der Mann derzeit nicht – nicht, solange die Spurensicherung drin war und die Leiche. Und auch danach nicht gleich. Wahrscheinlich länger nicht. Was macht ein Mensch in so einer Situation?, überlegte er. Wo geht Rothlauf jetzt hin, heute Abend? Wo kann er überhaupt hin, so mit sich, wenn sein Haus ... in seinem Haus ...? Gut, dass der Arzt sich kümmerte.

      Der Wind trieb die Tropfen schräg durchs Laternenlicht, die Straße glänzte. Drüben am Zaun stand noch immer der Nachbar, trotzte Dunkelheit, Regen und Kälte. Endlich einmal was zu sehen hier draußen. Trotz Schirm waren seine Haare nass und klebten ihm am Schädel. Der Arzt begleitete Rothlauf zum zweiten Sanka, schob ihn sachte hinein, die Schiebetür rutschte ins Schloss.

      Behütuns hatte keinen Schirm. Er schlug den Kragen hoch, ging hinüber zum Nachbarn.

      »Ned aweng nass?« Hilflose Gesprächseröffnung.

      Der Alte grunzte, sah ihn aus glasigen Augen an, unrasiert, die Trainingshose dunkel vor Nässe. Behütuns roch eine Fahne, eindeutig Schnaps.

      »Kriminalpolizei«, stellte er sich vor. »Sie werden mir noch krank hier draußen.«

      Keine Reaktion.

      »Stehen Sie schon länger hier?«

      Der Alte grunzte erneut, nickte mit dem Kopf. Es war der Typ pensionierter Beamter, so schätzte Behütuns ihn ein, dem mit dem Eintritt ins Pensionsalter die Pflichten weggebrochen waren, und damit die Struktur, der Halt im Leben, die Aufgabe, der Sinn. Seine Haare zeigten den Rest einer Rock-ʼnʼ-Roller-Tolle, mit Pomade nach hinten gekämmt. Oder war es die Nässe? Er schien ihm zur Sorte der Nichts-zu-tun-Ruheständler zu gehören, die jeden Tag vor dem Nichts standen und dagegen antranken. Für einen Sekundenbruchteil dachte Behütuns an sich selbst: Was würde er tun, wenn er in Pension ging? Wie füllte er dann den Tag? Mit Frühschoppen, Bierkeller, Biergarten? Auf Dauer nicht sehr verlockend. Er sollte sich schon langsam einmal Gedanken machen, bis dahin war es nicht mehr allzu weit. Der Alte hatte seine Frage nicht beantwortet, aber Behütuns wusste, dass er schon dort gestanden hatte, als Rothlauf nach Hause gekommen war.

      »Haben Sie vielleicht etwas gesehen? Etwas Ungewöhnliches? Wer in das Haus ist zum Beispiel?«

      Wieder grunzte der Alte nur. Dann blubberte er »Ihch säich doch fasd niggs mehr«, in einem Ton, dass es klang wie »Das Leben ist eine einzige große Scheiße, es ist alles nur widerwärtig, lästig und eklig«. Er sah ihn hohl an. »Homms bei di Rohdlahfs woll ahns umbrachd?«

      »Wie kommen Sie darauf?« Oben klapperte ein Dachschrägenfenster, ging kurz auf, gleich darauf wieder zu. Gelbes Licht unter den Wassertropfen auf der Scheibe. Dann erlosch es. Sicher stand man hier jetzt überall hinter den dunklen Scheiben und beobachtete. Wer wollte es den Leuten auch verdenken?

      »Na, sichdmer doch, is ja wie im Fernseh. Lauder Gwerch und Laid und Blaulichd. Abgschberrd is ah.«

      Er sah also doch etwas. »Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen?« Rothlauf hatte ihm vorhin zwar den Namen genannt, aber Behütuns hatte ihn gleich wieder vergessen. Typische Alterserscheinung. Er wusste gar nicht, warum er so freundlich war, denn der Alte ließ sich den Stinkstiefel fast provokant raushängen.

      »Eggl haaßi, Erich Eggl.« Die Fahne roch nicht mehr ganz frisch, aber intensiv.

      Das »Eggl« hatte er ausgesprochen wie »Ekel«. Irgendwie passend. Alfred, dachte sich Behütuns, Alfred Ekel hätte noch besser gepasst. Im Unterhemd. Auf dem Briefkastenschild entdeckte Behütuns den Namen: Eckl. »Also: Haben Sie vielleicht doch was gesehen?«

      »Nah.« Er grunzte wieder, das Wasser tropfte von seinem Schirm. Behütuns ließ ihn im Regen stehen, ging zurück zu seinem Wagen, schüttelte sich die Tropfen von der Jacke, stieg ein. Er konnte jetzt nichts mehr tun. Zwei Streifenpolizisten bewachten die Absperrung und nickten ihm zu. Arme Kerle, dachte er sich, so ein Dienst ist wie eine Strafe. Er telefonierte mit dem Präsidium, gab ein paar Anweisungen, startete seinen Wagen, wendete und fuhr los.

      •

      »Boah, schaust du aus!«, empfing ihn Dick, als Behütuns zurück ins Büro kam. Auch P. A. sah ihn erstaunt an. Es war viertel sechs. Die beiden saßen zurückgelehnt in ihren Drehstühlen und hatten die Füße auf dem Schreibtisch, die Schuhe standen davor. Normale Besprechungssituation. Der Kommissar stand in der Tür und begrüßte die Kollegen. »Arbeit, Leute. In Kraftshof wurden zwei Personen ...« Er stoppte und schüttelte den Kopf. »Eine Frau und ein Kind. Das Kind ist tot, die Mutter im Krankenhaus. Aber sieht schlecht aus.«

      Er hängte seine nasse Jacke an den Schrank, zupfte sich die durchnässten Hosenbeine von den Oberschenkeln und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Es war ein einziges Blutbad.« Er spürte, wie es ihn schlagartig würgte, das Gefühl kalten Speichels im Mund. Schon stürzte er hinaus, quer über den Gang zur Toilette, stieß die Tür auf. Gerade noch rechtzeitig. Gut, dass ihm das vor Ort nicht passiert war. Mit kaltem Wasser im Gesicht kam er zurück.

      »Sorry.«

      Er berichtete, was er gesehen hatte und wusste. Nicht viel. Nur überall Blut.

      •

      Noch am Abend war der Fall im Fernsehen. Deutschlandweit. Am nächsten Morgen waren die Zeitungen voll davon. Aufmacherthema auf den Titelseiten des Boulevards. Behütuns hatte, sehr kurzfristig, noch gegen halb sieben eine Pressekonferenz anberaumt, sein Chef Fortinger hatte ihn dazu angewiesen. Natürlich hatte die Presse ohnehin schon von dem schrecklichen Geschehen Wind bekommen, die Redakteure schliefen ja nicht, sondern taten, was sie tun müssen. Dementsprechend war die Bude brechend voll.

      »Nein, wir wissen noch nichts.«

      »Ja, es handelt sich um zwei Personen. Ein Kind, fünf Jahre alt, ein Junge. Und eine Frau, seine Mutter, einundvierzig.«

      »Nein, die Frau ist am Leben, sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Sehr kritischer Zustand. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.«

      »Ob sie durchkommt? Ich sagte Ihnen doch, dass ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann.«

      »Auch dazu kann ich Ihnen noch nichts sagen, wir müssen erst die Ergebnisse der Gerichtsmedizin abwarten. Das Ganze ist ja auch erst


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