Sweetland. Michael Crummey

Sweetland - Michael  Crummey


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erst zur Hälfte fertig waren. Er setzte sich am Morgen ins Wohnzimmer, um sich für eine Stunde oder zwei die Fernsehprediger anzusehen, eine Gewohnheit, die er von seiner Mutter in ihren letzten Jahren übernommen hatte. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne? donnerten sie, bevor sie die Kranken und Gelähmten baten, ihnen ihre mageren Ersparnisse und Behindertenrenten zu überschreiben. Seine Mutter stellte jede Woche einen Scheck über fünfundzwanzig Dollar aus, den sie Sweetland zum Versand anvertraute. Er verbrannte jeden einzelnen im Ofen, da er wusste, dass sie nicht mehr auf ihr Bankkonto gesehen hatte, seit sie ihre Alterspension erhielt.

      Sweetland achtete nicht besonders darauf, worüber sich die Prediger ausließen, doch er genoss es zuzusehen, wie sie herumgingen und die Arme um sich warfen und aus dem Mund schäumten. Sie wirkten wie professionelle Wrestler, die versuchten, einer Zuschauermenge in Maple Leaf Gardens eine Reaktion zu entlocken. Er sah sich die Sendungen wegen der Kirchenlieder an, die die Chöre zwischen den Lesungen und Predigten sangen. Er selbst war nie besonders gut im Singen gewesen, doch er kannte die Melodien und summte sie leise mit.

      Er aß ein zeitiges Mittagessen aus Thunfisch auf Weißbrot und einer Dose Pfirsiche als Nachtisch, dann verbrachte er die erste Hälfte des Nachmittags mit Online-Poker. Selbst dabei empfand er ein stechendes Schuldgefühl. Glücksspiele waren Teufelswerk, sagte seine Mutter, und hatte sonntags nicht mehr als eine Partie Hundertzwanziger erlaubt, als sie noch jung waren. Sie saßen in ihrer besten Sonntagskleidung herum und horchten auf die Wanduhr, die die endlosen Sekunden wegtickte. Onkel Clar schlief aufrecht auf seinem Stuhl. Man durfte Essen kochen und Geschirr spülen, doch der restliche Tag war Ruhe und Besinnlichkeit gewidmet, was für Sweetland immer eine Form von Folter war.

      In seinen Jahren auf dem Leuchtturm gab es Pflichten, die man nicht vernachlässigen durfte, und er polierte die Spiegel und beobachtete den Horizont, um die Schiffe zu sehen, die vorbeifuhren, machte Einträge im Protokoll des Leuchtturmwärters über Wetter und Wind, überprüfte die Notstromgeneratoren oder strich den Leuchtturm neu oder pflegte den Garten, als wäre es irgendein anderer Wochentag. Er dachte, der Job hätte ihn womöglich von der Sabbatgewohnheit geheilt, doch der war er wieder ausgesetzt, als er zurück nach Chance Cove zog. Als wäre es nicht seine Mutter gewesen, sondern das Haus selbst, das auf Einhaltung des Rituals bestand.

      Vor dem Abendessen drehte er eine Runde durch die Bucht, die Wolken in Fetzen über seinem Kopf. Er ging an Loveless’ Haus vorbei und nahm den Pfad zum Stall, rief dann nach Loveless, als er unter seinem Wohnzimmerfenster vorbeikam. Die Kuh stand auf dem winzigen Streifen Feld neben dem schiefen Stall, kaute am Gras, das sie bereits bis zur Erde heruntergerupft hatte. Sweetland legte eine Hand an ihren erhitzten Bauch und die Kuh schüttelte den Kopf, ohne das Maul vom Boden zu nehmen. Sie sah aus, als wäre sie bereit, ihr Kalb da zu werfen, wo sie stand.

      » Sie wird platzen, wenn sie das Kalb nicht bald bekommt «, sagte Loveless, der dahinter hervorkam.

      » Du hast kein bisschen Heu, um es für sie auszulegen? «, fragte Sweetland. » Das ist nicht mal genug Gras, um ein Kaninchen zu füttern. «

      » Sie hat das ganze Heu gefressen, das ich über den Winter beiseite getan hatte. «

      » Und, kannst du nichts von Glad bekommen? «

      Loveless blickte einen Moment weg und kaute an seiner unangezündeten Pfeife. » Er will mir die Kuh wegnehmen, Glad Vatcher. «

      » Gott, Loveless. Warum sollte er dir die Kuh wegnehmen wollen? «

      » Hat versucht, sie mir abzukaufen, als ich sie letzten Herbst zum Bullen gebracht hatte. Hat mein Nein fast nicht akzeptiert. «

      » Er hat nur versucht, das alte Mädchen davor zu bewahren, vor Hunger zu sterben. «

      » Sie hat genug «, sagte Loveless.

      » Du solltest ihn herkommen lassen, dass er nach ihr sieht. «

      » Wen, Glad? «

      » Ja, den verdammten Glad. Nur mal einen Blick drauf werfen. Bevor das Kalb kommt. «

      » Sie hat nichts «, sagte Loveless und sah sich um, nestelte mit einer Hand an seinem Hosenbein. Er kam nah genug heran, um eine Hand an die Flanke der Kuh zu legen. » Er war hinter mir her, damit ich das Paket unterschreibe, Moses. «

      » Na ja, lass ihn einfach reden «, sagte Sweetland. » Kümmere dich nicht drum. «

      » Er war sehr eindringlich. Er hat Dinge gesagt. «

      » Was für Dinge? «

      » So was hätte er nicht zu Sara gesagt. «

      Sweetland betrachtete den Mann einen Augenblick. Er sagte: » Du hast keine Zettel bekommen, oder? «

      » Zettel? «

      » Erpresserbriefe, so was. Mit Buchstaben aus der Zeitung. «

      Loveless starrte Sweetland an, als würde der einen Scherz machen.

      » Vergiss es «, sagte Sweetland. » Kümmere dich um die Kuh. «

      Loveless klapste auf die Flanke des Tiers. » Ihr geht es gut, der hier «, sagte er. » Sie wird schon klarkommen. «

      Am Abend war Sweetland zurück an den virtuellen Spiel­tischen, als das Skype-Symbol um seine Aufmerksamkeit bat und zu hüpfen begann. Er klickte es an, um den Anruf zu beantworten, Jesse am Schreibtisch in seinem Zimmer, unten hinter dem Hügel. Sein blasses Gesicht leuchtete weiß von dem Licht des Bildschirms.

      » Was machst du so, Jesse? «

      » Hausaufgaben «, sagte er.

      » Braver Mann. «

      » Was machst du? « Das Bild des Jungen war verwackelt, die Stimme leicht asynchron zu seinem Mund. Da war etwas Unheimliches an den Unterbrechungen, dachte Sweetland. Das hatte er immer an Skype gehasst, sprach lieber am Telefon. Obwohl er für das Telefon auch nichts übrig hatte.

      » Nicht viel «, sagte Sweetland. » Spiel ein bisschen Poker. «

      » Gewinnen oder verlieren? «

      » Was denkst du? «

      » Verlieren. «

      » Ach leck mich doch «, sagte er.

      Sweetland war nie in der Nähe eines Computers gewesen, bevor Queenies jüngste Tochter vor fünf Jahren ihre Sachen gepackt und nach Edmonton gezogen war. Er war mit seiner Schubkarre zu ihrem Haus getrottet, um den Schreibtisch abzuholen, den er ihr abgekauft hatte, und kam mit dem Computer im Arm heraus. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, hatte Sandra gesagt. Er legte den Plastikturm in die Wanne seiner Schubkarre und kehrte für den Monitor nochmal zurück. Mach dir keine Sorgen, hatte er gesagt, ich will es mir nur mal ansehen.

      Sweetland hatte nie vorgehabt, das Ding selbst anzurühren. Er hatte es für Jesse gekauft, dachte, dass er damit den Jungen beschäftigen könnte und sich die endlosen Befragungen ersparen, die er bei seinen Besuchen machte. Clara kam an jenem Abend mit Jesse, um ihm beim Aufbau des Geräts zu helfen, wobei der Junge Sweetland dabei jede einzelne Komponente erklärte.

      Das ist eine Maus, sagte Jesse, zeigte auf das Dingsbums aus Plastik neben der Tastatur. Das nimmst du, um den Cursor zu bewegen.

      Den was?

      Dieses Ding, sagte Jesse, zeigte auf etwas, was Sweetland auf dem Bildschirm erkennen konnte. Mach mal, sagte er, beweg die Maus.

      Und Sweetland hatte mit dem Zeigefinger dagegen gestoßen, als würde er ein schlafendes Tier anstupsen.

      Sie wird dich schon nicht beißen, Moses, sagte Clara, halt sie fest.

      Jesus liebt die unschuldigen Kinder, seufzte er.

      Jesse verbrachte die nächsten Wochen damit, ihn durch die Grundlagen zu führen, und er ergab sich der Beharrlichkeit des Jungen, dachte, es wäre weniger stressig, als sich zu wehren. Vor seiner ersten Reise mit Duke im Jahre 1962 auf das Festland hatte Sweetland kein Telefon benutzt, und niemand auf der Insel


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