Kung Fu Toby. H. H. T. Osenger
außerdem hatte der Fahrer das Taxenschild auf dem Dach eingeschaltet, der Wagen war also bis auf den Fahrer leer.
Der Supermarkt!
»Er muss in den Supermarkt gelaufen sein! Da hat er sich versteckt! Ihr zwei bleibt hier draußen und nehmt ihn in Empfang, wenn er `raus kommt! Ihr zwei geht mit mir `rein!«
Zwei Jungen, längst keine Kinder mehr, aber auch noch keine erwachsenen Männer, blieben vor dem Supermarkt stehen. Drei Gleichaltrige stürmten mit brutaler Begeisterung im Blick auf den Eingang zu. Dabei prallten sie mit dem Fahrer des Lieferwagens zusammen, der seine jetzt leere Sackkarre vor sich her schob.
»Macht doch eure Augen auf, ihr Blödmänner!«, legte der Fahrer erbost los.
»Mach doch selber die Augen auf …«, begann der Anführer der Gruppe genau so laut, wurde aber sehr schnell leiser. Die letzten beiden Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben. Er betrachtete den Fahrer: Ärmelloses T-Shirt, das eine muskulöse Brust verpackte, daraus ragten Arme, die ganz offensichtlich kräftiges Zupacken gewohnt waren. Trotz der niedrigen Temperatur schien er nicht zu frieren. Ein hageres Gesicht mit derben Zügen! Der Fahrer packte den Wortführer mit einer Hand am Kragen seiner Jacke.
»Was war das gerade?«, fragte er leise, aber drohend. Der Griff war eisenhart, mehr Schraubstock als Faust.
»Nichts, schon gut!«, sagte der Jüngere kleinlaut. Seine Gefährten waren froh, dass sie sich nicht an seiner Stelle befanden.
Der Fahrer blickte dem Jungen noch einmal fest in die Augen. Der schien sich in seine Jacke verkriechen zu wollen wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Da ließ der Erwachsene den Jungen los, nicht ohne ihm dabei einen Stoß zu versetzen, so dass dieser zwei kleine Schritte rückwärtstaumelte. Der Fahrer schob seine Karre auf den Lieferwagen zu und beachtete die fünf Jungen nicht mehr.
»Scheiße!«, fluchte der Anführer. »Das ist der Bubi vom Gymnasium schuld, das zahle ich dem heim. Das soll der mir büßen!« Mit diesen Worten betrat er den Supermarkt, zwei Vasallen im Gefolge, zwei andere standen draußen Wache.
Der Fahrer hob die Sackkarre in den Lieferwagen, wollte gerade die Türen schließen, da fiel sein Blick auf etwas, was sich im Halbdunkel zwischen den Säcken voller Feldfrüchte verbarg: Ein mittelgroßer, schmaler Junge mit hellbraunem Haar. Toby legte mit beschwörender Geste einen Finger an die Lippen und hauchte dann: »Bitte!«
Der Fahrer zögerte einen Moment, sah im Wagen das bleiche, verschwitze Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen, war unentschlossen, blickte zurück auf den Bürgersteig, wo zwei ziemlich wild aussehende Jungen den Eingang und das Innere des Supermarkts beobachteten, wachsam und stets bereit, sich auf das fliehende Opfer zu stürzen. Der Mann gab sich einen Ruck und schloss die Tür. Sofort befand sich Toby im Dunkeln. Aber er atmete auf. Der tiefe Atemzug befreite ihn von der Angst, die ihn in den letzten Minuten in ihren eiskalten, unbarmherzigen Krallen gehalten hatte. Er schloss vor Erleichterung einen Moment die Augen. Toby hörte die Geräusche der Straße nun gedämpfter. Der Wagen schaukelte leicht, als sich der Fahrer ins Führerhaus hinter das Lenkrad schwang. Der Diesel wurde gezündet, Toby versuchte irgendwo in der Dunkelheit Halt zu finden. Dann ruckte das Fahrzeug an, allerdings sanfter und langsamer, als der Passagier zwischen den Kartoffeln es erwartet hätte. Konnte es sein, dass der Fahrer auf ihn Rücksicht nahm?
Schon nach wenigen Augenblicken, der Wagen konnte nur einige hundert Meter zurückgelegt haben, erstarben Bewegung und Motorengeräusch. Toby hörte den Fahrer aussteigen und die Tür des Führerhauses zuwerfen. Einige Schritte, dann Geräusche an den Türen zum Laderaum. Sie wurden aufgezogen und ließen das graue Licht eines mit Wolken verhangenen Tages herein. Toby kam es vor wie der schönste Sonnenaufgang.
»Jetzt musst du aber aussteigen«, sagte der Fahrer ohne zu lächeln, aber nicht gerade unfreundlich. Dann stahl sich doch der Anflug eines Lachens auf seine hageren Züge. »Ich nehme nicht an, dass du bis zum nächsten Supermarkt mitfahren willst, den ich beliefern muss. Der ist nämlich erst in Erkrath.«
Leicht schwankend, aber immer noch euphorisch vor Erleichterung, ging Toby über die Ladefläche seinem Retter entgegen. »Danke, dass Sie mir geholfen haben!«, sagte er. Aber noch während er die Worte aussprach, warf er einen besorgten Blick zurück Richtung Supermarkt. Der war zum Glück schon außer Sicht, und von den Verfolgern bemerkte er auch keine Spur.
Mit Verständnis im Blick reichte der Fahrer Toby die Hand, damit dieser eine Stütze beim Sprung von der Ladefläche hatte. Der Junge spürte raue und schwielige Haut und die Kraft eines erwachsenen Mannes, der körperliche Arbeit gewohnt war. Dann stand er vor seinem Retter, der ihn um gewiss einen halben Kopf überragte.
Größe! Stärke! Was würde Toby dafür geben, wenn er doch nur so groß und stark sein könnte. Kein Wunder, dass der Anführer der fünfköpfigen Bande sich von dem Fahrer des Lieferwagens hatte einschüchtern lassen. Toby hatte die Szene zwar nicht gesehen, aber gehört.
»Schon gut, Junge!«, antwortete der Fahrer, gab Toby dabei einen leichten Klaps gegen die Schulter, der den Jungen dennoch ein wenig schwanken ließ, und setzte – nun freundlich lächelnd - noch hinzu: »Glaub aber nicht, dass ich immer da bin, wenn dir diese miesen Typen ans Leder wollen.«
Damit verschloss er den Laderaum, ging zum Führerhaus seines Wagens, setzte sich ans Steuer und fuhr davon. Toby blieb einen kleinen Moment auf dem Bürgersteig stehen, inmitten des Gewühles der Großstadt, und sah ihm hinterher. Dann hielt er aber auch schon wieder nach eventuellen Verfolgern Ausschau, stellte fest, dass er im Augenblick in Sicherheit war und machte sich zu Fuß auf den Heimweg durch den Düsseldorfer Stadtteil Bilk.
Er beschleunigte sehr bald seine Schritte. Nicht nur wegen der Möglichkeit, dass er wieder mit anderen Jugendlichen Ärger bekommen könnte, sondern auch, weil der Himmel Regen verhieß. Bald verflog die Euphorie, die er seit dem Entkommen vor der Bande empfunden hatte, und seine Stimmung wurde so trüb wie das Wetter. Er passierte eilig eine graue Betonwand, die über und über mit Graffiti beschmiert war. Er ging an Häusern vorbei, die bereits über hundert Jahre auf dem Buckel hatten, und aus deren Kellerlöchern es manchmal unangenehm roch. Diese alten Buden standen einträchtig neben modernen Häusern, die erst in den letzten Jahren gebaut worden waren oder neben Mietskasernen aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. An den Zweigen der wenigen Bäume, die sich hier befanden, waren die ersten Knospen zu sehen, das zaghafte Versprechen, dass der Winter bald vorbei sein und der Frühling Licht und mildere Temperaturen bringen könnte.
Toby wohnte nicht weit von dem Gymnasium entfernt, das er besuchte. Er benötigte normalerweise nicht mehr als zehn bis zwölf Minuten für die Distanz. Heute war sie aufgrund der erzwungenen Fahrt im Lieferwagen etwas länger, aber das nahm er gerne in Kauf.
Sie hatten mal wieder vor dem Ausgang seiner Schule gelauert. Fünf Jungen, eigentlich nicht viel älter als er, aber kräftiger, sportlicher, und aggressiv! Diese Typen wussten aus Erfahrung, wie man sich schlug. Toby kannte ihre Namen nicht, aber er kannte ihre Gesichter. Der Anführer hatte brutale Gesichtszüge und weit abstehende Ohren, so dass er in Tobys Sprache, die er nur für seine eigenen Gedanken verwendete, von Anfang an den Spitznamen Segelohr trug. Zwei weitere stammten auf jeden Fall aus Familien, die einst als Gastarbeiter aus südlicheren Gefilden, vielleicht der Türkei oder einem arabischen Land, eingewandert waren. Ein weiterer sprach mit Ostakzent, der fünfte mochte wie Segelohr aus einer Ur-Düsseldorfer Familie stammen. Eins hatten sie gemeinsam: Sie mochten keine »Bubis vom Gymnasium«, wie sie stets betonten. Und so hielten sie immer wieder Ausschau nach Jungen wie Toby, die einzeln waren, schmächtiger, sich nicht wehren konnten. Und diese Jungen verprügelten sie, und wenn sie Wertvolles bei ihnen fanden, nahmen sie es ihnen ab. Toby war eigentlich eher selten ihr Opfer, da er keine trendigen Klamotten trug, kein Smartphone oder Handy besaß, selten Geld mit sich führte. Keine Reichtümer, die man stehlen konnte. Deswegen galt er auch in seiner Klasse als Außenseiter. Aber wie auch immer: Als er vor ungefähr einer Viertelstunde die Schule verlassen hatte, lag die Bande bereits vor dem Gebäude auf der Lauer. Als sie Toby bemerkten, war dieses gemeine Grinsen auf den Gesichtern aufgezogen. In dem Augenblick hatte Toby gespürt, wie sich sein Magen verkrampfte: Heute war er dennoch wieder dran!
Eines verstand