Kung Fu Toby. H. H. T. Osenger

Kung Fu Toby - H. H. T. Osenger


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Klassen, die dieses Schicksal teilten. Er hatte versucht, eine Allianz zwischen den Betroffenen zu schmieden, denn – und da war sich Toby sehr sicher – gemeinsam konnten sie den fünf Typen trotzen. Eine Gemeinschaft, die von der Kopfzahl her stärker war, würde die Bande vielleicht nicht in die Flucht schlagen können, aber von ihnen unbehelligt bleiben. Wenn sie nur zusammen hielt. Vergebens! Die anderen Schüler hatten sich abgewandt, sobald sie verstanden hatten, was Toby ihnen vorschlagen wollte.

      Einmal hatte er sich Hilfe suchend an Schüler der Oberstufe gewandt, junge Männer, die kurz vor dem Abitur standen. Sie hatten ihn ignoriert, belächelt, grob abgewiesen, jedenfalls hatten sie ihm nicht geholfen. Und so war das Verlassen der Schule nach dem Unterricht für Toby immer mit der Aussicht auf Prügel und Demütigung verbunden. Eine Art niemals endender Spießrutenlauf!

      Ja, die Demütigung, dachte er. Eigentlich war die noch schlimmer als die schmerzhaften Schläge und Tritte. Vor den Augen der Mitschüler zu Boden gestoßen zu werden, wehrlos, und alle sahen zu. Oder wandten sich schnell ab, heilfroh, nicht selbst das Opfer zu sein. Diese Hilflosigkeit und Schwäche! Dieses Gefühl, dass die anderen stärker und damit besser waren als er. Dass er schwächer und somit minderwertiger war als die Schläger! Diese Beschämung vor den Augen der anderen Schüler. Natürlich auch vor den Mädchen, vor denen er doch lieber groß und gut aussehen wollte. Insbesondere war da Bellinda, das Mädchen mit den langen, blonden Haaren aus der Parallelklasse. Jeder Junge schien sie zu verehren. Sie war immer wieder das Gesprächsthema Nummer Eins. Toby hätte weiß Gott was dafür gegeben, wenn sie sich einmal mit ihm verabreden würde. Oder auch nur öfters mit ihm sprechen würde, zum Beispiel in der Pause oder so. Einmal hatte er sie angesprochen; er hatte versucht, all seinen Mut zusammen zu nehmen und möglichst cool zu wirken. Tatsächlich hatten seine Knie vor Nervosität in den Hosenbeinen gezittert. Die bebenden Hände hatte er vorsichtshalber in den Hosentaschen vergraben. Er fragte sie, wie sie den neuen Mathelehrer finden würde. Nicht sehr originell, aber etwas anderes war ihm nicht eingefallen. Sie hatte nicht geantwortet, ihn nur angelächelt und leise gelacht. Und Toby, der weder einschätzen konnte, was ihr Lachen bedeuten sollte, noch eine Ahnung hatte, was er jetzt noch sagen könnte, war weg gegangen, wobei er etwas Undeutliches vor sich hin murmelte. Dabei – und auch den ganzen Rest des Tages und den nächsten Tag – hatte er sich gewünscht, er hätte sich ihr nie genähert. Er war sich wie ein Idiot vorgekommen. Von da an mied er ihre Umgebung. Und er hatte auch nie das Gefühl gehabt, dass Belinda ihn auch nur registrieren würde. Nun ja: So, wie die Dinge nun einmal waren, war er lieber froh, wenn sie ihn tatsächlich nicht sah. Vor allem dann nicht, wenn er mal wieder für die Prügel reif war.

      Überhaupt: Niemand in der Schule sagte es in klaren Worten, aber Toby hatte diese Lektion schon längst begriffen. Es gab immer einige wenige Jungen, die in die Rolle des Opfers und des Außenseiters gedrängt wurden. Und dieser Gruppe gehörte er auch an. Keine trendigen Klamotten, keine teuren Smartphones, kein sonstiger technischer Firlefanz, der ihm in der Gruppe Bedeutung verlieh. Aber immer wieder Erniedrigung durch die Schläger, denen er bestenfalls durch eine Flucht Hals über Kopf entgehen konnte! Seht doch, da rennt Toby Decker mal wieder um sein Leben, diese doofe Pfeife!

      Toby hasste die Bande. Er hasste auch die Mitschüler, die ihm nicht halfen. Toby hasste seine Schwäche, die ihn in diese Rolle zwang. Er hasste sein Außenseitertum. Er hasste sein Leben und sich selbst ganz besonders. Er beneidete die Starken, die die Besten im Sport waren, die Klugen, die die besten Noten schrieben, die zum Klassensprecher gewählt wurden, die von den Mädchen angehimmelt wurden, die, die stets im Mittelpunkt standen und um deren Gesellschaft sich jeder riss. Traurig, aber gefasst, öffnete er die Tür des schäbigen Mietshauses, in dem er mit seiner Mutter und seinem Stiefvater wohnte.

      Er stapfte missmutig die Stufen nach oben. Von irgendwo hörte er einen zu laut eingestellten Fernseher. Es roch nicht besonders gut im Treppenhaus. Toby zog den Schlüssel zur Wohnung aus der Tasche und öffnete die Tür. Ein wohlbekannter Duft schlug ihm entgegen. Seine Mutter kochte – wie so oft – Spaghetti Bolognese. Hackfleisch war häufig im Sonderangebot, und Nudeln eines No-Name-Herstellers waren immer preiswert zu kaufen.

      Toby warf die Tür leise ins Schloss und legte die Schultasche neben der Garderobe auf den Boden. Die Garderobe war eigentlich für den winzigen, fensterlosen Flur zu groß und machte den Eingangsbereich noch kleiner. Er hängte seine Jacke auf und betrat die Küche. Seine Mutter stand am Herd und sah ihm freundlich lächelnd entgegen. Dabei rührte sie abwechselnd in zwei Töpfen. Tobys Nase hatte ihn nicht betrogen.

      »Hallo, Toby, wie war die Schule?«, fragte sie leise und mit Wärme in der Stimme. Sie nannte ihn stets Toby. Tobias sagte sie nur, wenn sie auf ihn böse war. Das kam zum Glück sehr selten vor.

      Toby setzte sich an den kleinen Küchentisch in dem knapp bemessenen Raum. »Geht so!«, antwortete er einsilbig.

      Sie trat näher und strich ihm zärtlich über den Kopf. »Du wirkst so niedergeschlagen. Hast du Ärger gehabt?«

      Der Junge hätte am liebsten die Hand der Mutter weg geschoben, wusste aber, dass sie ihn dann nur noch mehr mit Fragen gelöchert hätte. Außerdem wollte er ihre Gefühle nicht verletzen. Denn das hätte seine ablehnende Reaktion auf ihre Zuneigung bewirkt, das wusste er auch. Sie hätte nie verstanden, dass ihre Zuwendung in dieser Stimmung das Letzte war, was er brauchen konnte. Seht doch, Toby Decker, das Muttersöhnchen! Ei, wie süß! Toby schüttelte als Antwort nur den Kopf.

      Das Mittagessen war wenige Minuten später fertig. Mutter und Sohn saßen schweigend zusammen und aßen. Toby dachte darüber nach, dass seine Mutter der einzige Mensch auf Erden war, der etwas für ihn übrig hatte. Und deshalb war sie ihm auch lieb und teuer, wenn er auch immer – und vor allem jetzt - ein großer und erwachsener Mann sein wollte, der eigentlich keine Mutter brauchte.

      Mit seinen vierzehn Jahren hatte Toby schon eine recht genaue Vorstellung davon, dass auch seiner Mutter das Leben übel mitgespielt hatte. An seinen leiblichen Vater hatte er nur eine schemenhaft Erinnerung, so früh war er gestorben. Es war seltsam, aber je mehr Energie er aufwandte, um sich das Bild dieses Mannes vor Augen zu rufen, desto mehr entzog es sich seinem Zugriff und verschwand in der Ferne der frühen Kindheit. Aber an die Tränen der Mutter über den Verlust, an ihre Verzweiflung konnte er sich gut erinnern, denn das hatte sich in seine Seele fest eingebrannt.

      Er wusste noch, dass sie eine Zeit lang bei Verwandten gewohnt hatten. Damals war er noch zu sehr Kind gewesen, um zu spüren, dass sie beide dort mehr geduldet als willkommen waren. Seine Mutter hatte ihm das in späteren Tagen zur Erklärung erzählt, wenn er fragte, warum sie noch einmal geheiratet hatte. Denn unter seinem Stiefvater litt Toby; der Kerl zeigte nur zu deutlich, dass er den Sohn eines anderen Mannes ablehnte. Er hatte eben vor der Wahl gestanden, auf eine hübsche, dunkelhaarige Frau zu verzichten oder sie mit Sohn zu nehmen. Toby wünschte sich stets, er hätte sich für Ersteres entschieden.

      Aber die zweite Ehe war auch für die Mutter nicht das Richtige. Sie wurde verhärmt, denn sie ärgerte sich oft über den Mann, den sie etwas überstürzt geheiratet hatte. Er hatte gut genug verdient, um ihr ein Leben versprechen zu können, das sie aus der Abhängigkeit der Verwandten befreite. Sie musste aber nur zu schnell feststellen, dass sie die eine Abhängigkeit gegen eine andere aufgab. Der neue Familienvorstand war ein egoistischer und selbstgefälliger Tyrann. Er allein bestimmte, wofür das Einkommen ausgegeben wurde. Und obwohl es vermutlich Männer gab, die weniger Geld nach Hause brachten und dennoch damit eine Familie versorgten, begann seine Mutter vormittags zu arbeiten, sobald sie verantworten konnte, dass sie vor ihrem Sohn die Wohnung verließ. Toby hatte keine Ahnung, wie genau jeden Monat das Geld ausgegeben wurde, aber für ihn fiel garantiert nicht der größte Teil ab. Er trug die billigsten Jeans und Sportschuhe. Dinge, die seine Klassenkameraden hatten und über die sie sprachen, besaß er nicht. Er hatte keinen Computer, keine Playstation, konnte sich keine Kinobesuche leisten oder CDs kaufen. Auch die Kleidung seiner Mutter war eher zweckmäßig als modisch und schick. Er konnte sich an eine Bemerkung seiner Mutter erinnern, die er allerdings nicht verstanden hatte. Oder besser gesagt, nicht hatte verstehen wollen. Sie argwöhnte, dass ihr Mann ab und zu »in gewissen Häusern« den großen Herrn spiele.

      Jedenfalls war die nicht besonders große Mietwohnung sein Zuhause, in der er ein kleines Zimmer hatte.


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