Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
Das Phänomen, einem Ganzen (Gemeinwesen) unter Zurückstellung eigener Bedürfnisse dienen zu können, zeigt, dass es phasenweise möglich ist, Arbeiten und Dienste nicht verengt ich-orientiert auszuführen.
Die Rückstellung eigener Bedürfnisse zugunsten des Engagements für andere Menschen oder einer transzendentalen Welt hat als Handlungsgrundlage das Motiv der Unter- und Einordnung des eigenen verengenden Ichs (Ego) im hierarchischen Prozess. Diese Handlungsweise zielt auf den Dienst am Ganzen, wenn der Mensch lernt, sein Ego schrittweise loszulassen, um sein Ich zu öffnen. Sie beschreibt den eigentlichen Freiheitsprozess des Menschen zu sich selbst. Er findet bei allen Zen-Künsten Anwendung, die auf die Erfahrung des ursprünglichen Wesens vorbereiten wollen. Wer sich diesem Prozess schon einmal unterzogen hat, weiß, dass er anstrengend ist, wie alles Lernen, das am Anfang steht. Beim Phänomen der Anstrengung geht es darum, das Ego zurückzustellen. Dieser schwierige Prozess wird auch als Annäherungsprozess an das Ziel der Selbstlosigkeit bezeichnet. Hier muss der Widerstand der gegenläufigen Dynamik der verengenden Ich-Orientierung immer wieder überwunden werden. Streng ist jemand, der bei der Durchführung seiner Arbeit bestimmte Tätigkeiten (seien sie „gut“ oder „schlecht“) konsequent bis zum Ende durchhält und sich von keiner anderen Person oder anderen Umständen ablenken lässt. Strenge erfordert Konzentration: ein Gerichtetsein auf das Wesentliche und Wichtige unter bewusster Vernachlässigung von Unwichtigem und Nebensächlichen. Es stößt in die Tiefe vor, wenn der Mensch sich über sein kleines Ego hinaus zum gegenläufigen Selbst-Befreiungsprozess öffnet.
3.3 Das Spektrum der unpersönlichen Einstellung
Von einer unpersönlichen Einstellung sprechen wir, wenn die Primärmotivation einer Handlung nicht auf die verengende Ich-Orientierung des Menschen ausgerichtet ist, sondern sich auf ein überindividuelles, fürsorgendes Ganzes richtet, dem der Mensch dienen kann.
Als Paradoxon ist der Mensch eine Mischung aus persönlichen und unpersönlichen Handlungsweisen. Dieser Spektrumsbereich reicht von der extremen Ich- und Bedürfnisorientierung bis zum vollkommen überdauernden unpersönlichen Leben. Unser Verhalten bewegt sich meist in einem Zwischenbereich, gemäß unserer Entwicklung auf je verschiedenen Entwicklungsstufen. Die Schwierigkeit besteht darin, auszumachen, wo wir im Spektrum individuell stehen, da sehr schwer zu erkennen ist, wann, wo und vor allem in welchem Ausprägungsgrad unser Ego am Tun unserer Handlungen beteiligt ist. Das in der Bhagavadgita richtig verstandene Nicht-Handeln meint kein Nicht-Handeln schlechthin (das es nie geben kann, da alles Leben immer Handeln ist), sondern ein Handeln ohne Ego-Beteiligung.
Die eigentliche unpersönliche Einstellung beginnt, wenn der Mensch eine relativ überdauernde, stabile positive, d.h. angstreduzierte Stimmung erreicht hat. Kennzeichen dieser Stimmung ist eine abgesenkte manifeste Angst, die aus einem vorherigen Zustand von relativ hoher manifester Angst hervorgeht. Der Hervorgang erfolgt über eine Transformationserfahrung, die der Mensch nicht willentlich erreichen kann. Sie ist Kern und Schlüssel für die Entwicklung der eigentlichen unpersönlichen Einstellung. Eine kleine Anekdote von Eugen Herrigel soll der Verdeutlichung dienen:
Yagyu Tajima-no-kami war ein großer Meister im Schwertkampf und unterwies den damaligen Shogun Tokugawa Jyemitsu in dieser Kunst. Einer der Leibwächter des Shogun kam eines Tages zu Tajima-no-kami und bat ihn um Unterricht im Fechten. Der Meister sprach: .Soviel ich sehe, scheint ihr selber ein Meisterfechter zu sein. Bitte, teilt mir mit, welcher Schule Ihr angehört, bevor wir in das Verhältnis von Lehrer und Schüler treten.ʻ Der Leibwächter sprach: ‚Zu meiner Beschämung muß ich bekennen, daß ich die Kunst nie erlernt habe.ʻ ‚Wollt Ihr mich verspotten? Ich bin der Lehrer des ehrwürdigen Shogun selber und weiß, mein Auge kann nicht trügen.ʻ ‚Es tut mir leid, wenn ich Eurer Ehre zu nahe trete, aber ich besitze wirklich keine Kenntnisse.ʻ Dieses entschiedene Bestreiten machte den Schwertmeister nachdenklich, und schließlich sagte er: ‚Wenn ihr es sagt, muß es so sein. Aber ganz sicher seid Ihr in irgendeinem Fache Meister, wenn ich auch nicht genau sehe, worin.ʻ ‚Ja, wenn Ihr darauf besteht, will ich Euch folgendes berichten. Es gibt ein Ding, in dem ich mich als vollkommenen Meister ausgeben darf. Als ich noch ein Knabe war, kam mir der Gedanke, als Samurai dürfe ich unter gar keinen Umständen mich vor dem Tode fürchten, und seither habe ich – es sind jetzt einige Jahre – mich fortwährend mit der Frage des Todes herumgeschlagen, und zuletzt hat diese Frage aufgehört, mich zu bekümmern. Ist es vielleicht dies, worauf ihr hinauswollt?ʻ ‚Genau diesʻ, rief Tajima-no-kami, ‚das ist’s, was ich meine. Es freut mich, daß mein Urteil mich nicht betrog. Denn das letzte Geheimnis der Schwertkunst liegt auch darin, vom Gedanken an den Tod erlöst zu sein. Ich habe viele Hunderte meiner Schüler im Hinblick auf dieses Ziel unterwiesen, aber bis jetzt hat keiner von ihnen den höchsten Grad der Schwertkunst erreicht. Ihr selber bedürft keiner technischen Übung mehr, Ihr seid bereits Meister.ʻ13
Das Beispiel bezeugt, dass die eigentliche unpersönliche Einstellung mit Furchtlosigkeit vor dem Tod verbunden ist. Sie ist selten und bedarf einer längeren geistigen Vorbereitungszeit. Der Grad in dieser Kunst wird nur von wenigen Schülern erreicht. Wird dem Menschen diese Stimmung offenbar, transformiert sich das Phänomen der Anstrengung in Gelassenheit. Ein solcher Gestaltwandel ist verbunden mit einer veränderten Art der menschlichen Wahrnehmung. Auf dieser Stufe handelt der Mensch nicht mehr auf dem Fundament subjektiver Neigungen, sondern aus einer überpersönlichen Kraftquelle, die ihm bei seinen Tätigkeiten eine andere Art der Freude vermittelt.
Beim Phänomen der Ego-Rückstellung ist die Anstrengung noch dominant. Während die eigentlich unpersönliche Einstellung sehr selten vorkommt, ist das Phänomen der phasenweisen Ego-Rückstellung relativ häufig. Wir treffen es an, wenn Menschen anderen Menschen – aktuell in der sogenannten Willkommenskultur – helfen, bei konzentrierten, genau durchgeführten Arbeitsprozessen, die sich Zeit für das Detail nehmen, bei der Ausübung von Ehrenämtern, bei denen nicht Zeit gespart, sondern geopfert wird, aber auch bei anderen Handlungen, bei denen Anstrengung und ein bestimmtes Maß an Selbstdisziplin verlangt werden, bei Handlungen, die ein gewisses Maß an Rückstellung von Eigennutz und Eigeninteresse beinhalten. Wird auf dieser Stufe unpersönlich gehandelt, ordnet sich der Mensch in einem zeitlich begrenzten Rahmen einer Sache unter, der er dient. Er schränkt während dieser Zeit eigene Bedürfnisse ein und stellt sein Ego hintan.
Das Phänomen der phasenweisen Ego-Rückstellung ist ein oft gefordertes Verhalten. Die Welt verlangt in vielen Situationen, unser Ego zurückzunehmen, um das Weltganze zu achten. Die Ethik der natürlichen Welt misst sich an solchen Handlungen, die nach außen hin als „uneigennützig“ gelten. Was „eigennützig“ und „uneigennützig“ ist, klärt die Frage: Wo ist das Ego an der Handlung beteiligt? Wo versteckt sich Eigennutz? Erst wenn der Mensch sein Motiv erkennt, gelangt er auf eine tiefere ethische Ebene. Oft sind die gutgemeinten Handlungen vom Antrieb des Egos manipuliert und bleiben in der persönlichen Handlungsdimension gefangen. Der Mensch im Widerspruch entspricht der ethischen Pflicht nach Vorgabe und kann zumeist nicht differenzieren, wo sein Ego an der Handlung beteiligt ist.
Es gibt aber noch eine dritte, untere Stufe im Spektrum des Unpersönlichen, die mit dem Phänomen des Unpersönlichen scheinbar nichts mehr zu tun hat. Sie beschreibt die Entwicklung der reinen Egodimension, die Voraussetzung für die Entwicklung des Unpersönlichen ist. Erst in der Angsterfahrung, im Erleiden der Enge kann der Umschlag in die Befreiung des Menschen zu sich selbst erfolgen. Das Ego-Wachstum ist auf den Besitzmodus der Bedürfnisund Konsumorientierung ausgerichtet. Diese Dimension findet ihren Sinn im Zusammenbruch des Menschen, aus dem eine andere Dynamik hervorgehen kann. Deshalb ist das Ego-Wachstum notwendige Voraussetzung14 für eine spätere Transformation. Denn einem Ego kann nur Einhalt geboten werden, wenn es Stärke besitzt. Ohne ein sich hartnäckig behauptendes Ego gibt es keine echte menschliche Transformation. Deswegen ist auch diese untere Stufe des Spektrums der Motivdynamik vom Entwicklungs- und Wachstumsprozess her betrachtet nicht nur durch und durch positiv zu sehen, sondern auch als not-wendig zu akzeptieren.
3. Inwieweit ist der ALDI-Unternehmensgeist unpersönlich?
Rufen wir uns Dieter Brandes’ Feststellung noch einmal ins Gedächtnis: „Das Unpersönliche