Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
und „nicht erlaubt“ sei und was „belohnt und bestraft“ werde.
Wichtig sei hier das Vorbild und Beispiel von Inhaber und Führungskräften, die solche Regeln bei Besprechungen immer wieder thematisierten. Es komme darauf an, dass der Appell an solche Regeln nicht nur mechanisch und unmotiviert geschehe, sondern mit Leidenschaft erfolge. Sei die Unternehmenskultur in sich stimmig, dann sei sie auch effizient; ein aufwendiges Koordinations- und Kontrollsystem könne entfallen. Die dezentrale Führung, die kurz und präzise formulierten Stellenbeschreibungen und das ausgeklügelte Kontrollsystem in Form von Stichproben trügen zur Qualitätssicherung bei. Innerhalb des Kontrollsystems spiele die „Kulturkontrolle“ eine wichtige Rolle. Hier werde geprüft, ob Vorgesetzte Werte wie Glaubwürdigkeit und Übereinstimmung von Reden und Handeln an ihre Mitarbeiter weitergäben. Handeln heiße bei ALDI immer auch Beispiel sein.
Wichtigstes Wesensmerkmal bei ALDI ist das Grundprinzip Askese. Am Anfang wurde z.B. auf Telefone verzichtet, die Pausenräume für das Personal waren mit einfachem, zweckmäßigem Mobiliar ausgestattet und die Firmenwagen nicht luxuriös. So fuhr der Verwaltungsrat die kleinste Ausführung der S-Klasse ohne Sonderausstattung. Hier spielt die Einstellung der Bescheidenheit9 eine Rolle, die wahrscheinlich die Erklärung für die Unterschiede in den Erfolgsbilanzen liefert.
Ein weiteres Grundprinzip ist das der Sparsamkeit. Extremes Kostenbewusstsein vermeidet unnötige Ausgaben auf allen Ebenen. Dies wird z.B. bei der Verwendung der Rückseite von bereits beschriebenem Papier umgesetzt, beim Ausschalten des Lichts, wenn ein Raum genügend hell ist, bei der Optimierung der Lux-Zahlen in den Läden oder bei der Verwendung optimaler Kartongrößen (Efficient Consumer response). Theo Albrechts Büro war einfach ausgestattet. Er fuhr bis zu seiner Entführung 1971 keine Luxuslimousine und hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch keinen Fahrer.
Bescheidenheit und Sparsamkeit bedingen den freiwilligen Verzicht auf Luxus und Statussymbole, aber auch ein damit verbundenes menschliches Auftreten, das wiederum sparsame und bescheidene Führungskräfte rekrutiert, die diese Werte weitertragen. Deshalb wird von ihnen eine bestimmte Selbstdisziplin erwartet, die für die Umsetzung der Prinzipien Sparsamkeit, Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit und Fairness gegenüber anderen erfordern. Weil es nicht leicht ist, eine solche Lebensweise zu praktizieren, müsse der Führungsnachwuchs aus den eigenen Reihen kommen. Er werde beobachtet und müsse sich über mehrere Jahre hinweg in diesen Tugenden durch verschiedene Abteilungen hindurch beweisen. Ein zum Geschäftsführer Berufener müsse zunächst Filialleiter, dann Lagerleiter, Verkaufsleiter und Bezirksleiter gewesen sein, bevor er seine Verantwortung als Geschäftsführer oder gar Verwaltungsrat wahrnehmen könne. Schon bei der Einstellung werde also darauf geachtet, ob die Persönlichkeit eines Mitarbeiters entsprechende kulturelle Werte verkörpere, denn diese seien wichtiger als ein Harvard-Diplom oder einschlägige Erfahrungen bei McKinsey. Mitarbeiter werden also primär nach diesen kulturellen Persönlichkeitskriterien ausgewählt und eingestellt, erst in zweiter Linie nach ihrer Qualifikation.
Für den wirtschaftlichen Wachstumserfolg bei ALDI sind also psychosoziale, d.h. menschlich-geistige Werte von zentraler Bedeutung. Die Frage nach der Persönlichkeit des Mitarbeiters steht im Vordergrund. Kann ein Mitarbeiter die Werte der Grundprinzipien selbst leben und damit weitergeben? Welches Phänomen bedingt die Haltungen von Bescheidenheit und Sparsamkeit, Askese, Detailliebe und strikter Konsequenz? Dieter Brandes antwortet: „Das Unpersönliche ist durchaus Teil der ALDI-Kultur.“10 Was aber ist das Unpersönliche? Dies wird von Brandes nicht weiter thematisiert. Mit dem Begriff wird ganz selbstverständlich umgegangen, ohne ihn zu hinterfragen. Wir wollen versuchen, dieses Phänomen aufzuhellen.
3. Das Phänomen des Unpersönlichen
Die Klärung des Phänomens des Unpersönlichen erfolgt über die Öffnung des Menschen zu sich selbst. Der Schlüssel für ein tieferes Verständnis des Phänomens liegt in der Erhellung der Motive (inneren Beweggründe) des Menschen.
In der abendländischen Geschichte wird von Plato bis Heidegger immer wieder auf diese Erhellung hingewiesen. Vollendet liegt sie schon im 13. Jahrhundert bei Meister Eckhart vor, der zwischen dem „natürlichen“ und „göttlichen“ Menschen differenzierte.11 Richtiges Handeln erfolge nach Eckhart nicht allein im äußeren Tun, sondern in der richtigen inneren Einstellung dazu. Sie wird erreicht, indem der Mensch lernt, seinen ich-zentrierten Willen loszulassen, um vom göttlichen Willen geführt zu werden. Die Dynamik dieses Prozesses führt über eine geistige Umkehr hin zu einem übergeordneten (bei Eckhart „göttlichen“) Ganzen, von dem der Mensch geleitet und bestimmt wird.
Zu unterscheiden sind zwei Motivzusammenhänge, zum einen die Ausrichtung des Menschen auf seine ausschließlich ich-orientierten Bedürfnisse und zum anderen die Ausrichtung auf die Wirkkräfte eines über seine eigenen Bedürfnisse hinausgehenden Ganzen (eines Gemeinwesens, welcher Art auch immer). Beide Motivzusammenhänge sind gegenläufig, ergänzen sich aber gegenseitig. Sie konstituieren das Paradoxon Mensch. Diese gegenläufigen Bewegungen sind miteinander verbunden. Die eine Dynamik hat die Orientierung der Verengung, zieht den Menschen nach unten und begrenzt ihn in seinen Möglichkeiten, die andere hat die Orientierung der Weitung und Öffnung, befreit den Menschen aus der Verengung, zieht nach oben und will ihn zur vollendeten Wirklichkeit führen. Das Zusammenspiel beider Richtungen fördert den Wachstumsprozess des Menschen.
3.1 Die ich-orientierten Bedürfnisse
Das Kriterium für die Ausrichtung des Motivs auf ein ich-orientiertes Bedürfnis liegt nicht im sichtbaren Tun einer Sache, auch nicht im Erleben des Bedürfnisses an sich, sondern darin, wie stark das verengte, angstbesetzte Ich des Menschen am Erleben beteiligt ist. Beim Phänomen der Bedürfnisorientierung verstehen wir Menschen, deren Tun und Handeln zu stark auf die eigenen Bedürfnisse und Wertvorstellungen ausgerichtet sind. Beobachtungen solcher Art sind unbewusst oft von einer abwertenden Haltung begleitet. Grund dafür ist, dass sich hinter der Maske der Bedürfnisorientierung oft eine egoistische Haltung verbirgt, die der Beobachtende als negativ empfindet. Die negative Reaktion erfolgt aufgrund einer unbewussten Nicht-Akzeptanz dieser Haltung. Doch es ist nicht das Leben der Bedürfnisse, sondern die Orientierung des Menschen auf sich selbst, die ihn verengt und vereinzelt. Solange er diese negative Haltung nicht aufgibt, bleibt er primär in seinem verengenden Ich und sekundär in der Abhängigkeit seiner Bedürfnisse gefangen. Er urteilt über andere negativ und erkennt nicht, dass er seine eigene Lebenshaltung auf den anderen projiziert. Dadurch verdrängt er die eigene existenzielle Problematik, meint frei zu sein, ist es aber nicht. Im Gegenteil: Nach und nach wird er Sklave seiner Begierden und negativen Werthaltungen, obwohl er zunächst im Glauben lebt, mit der Erfüllung seiner Bedürfnisse glücklich und gut zu sein.
Ursache des Festhaltens an dieser verengenden Lebensform ist die Motivdynamik, die sich der Öffnung und Weitung des Menschen verschließt. Sie möchte Absicherung, führt zum Stillstand und verhindert geistiges Wachstum. Wir bezeichnen sie als das Ego des Menschen. Wird es nicht infrage gestellt, verfestigt es sich durch Wiederholung und Gewöhnung weiter und verwickelt den Menschen in seelisches Leid. Diese Ver-Wicklung ist die Gegenorientierung zu seiner geistigen Ent-Wicklung, die Reibungskraft, die bei der Selbstfindung zu überwinden ist. Je stärker der Mensch von seinem Ego geleitet wird, desto mehr wird er von seinen eigenen Bedürfnissen abhängig sein und in Negationen verfallen. Alles kreist dann nur um ihn und seine Welt, d.h. die ganze Welt und die anderen sollen für seine Bedürfnisse bereitstehen. Hier liegt die Wurzel der Macht verborgen, die in die Tyrannis führt, der Lebensform ohne jegliche Selbsterkenntnis.
Die Motivdynamik, die sich ausschließlich auf die Bedürfnisse des Egos hin ausrichtet, ist Antriebskraft in jedem Menschen. Meist werden wir von ihr unbewusst geleitet, ohne von ihr zu wissen. Beginnt sie aber im Wachstumsprozess zu wuchern, wird das Phänomen der Gier sichtbar.12 Der Mensch gerät aus seinem seelischen Gleichgewicht und wird mit den Abgründen des Lebens konfrontiert. Für die Erhellung des Unpersönlichen ist es wichtig, diese Dynamik bewusst zu machen, um aus ihrer