Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
und Theo Albrecht die Leitung des elterlichen Lebensmittelgeschäfts in Essen und eröffneten zwei Jahre später ihre erste Filiale in der Schonnebecker Saatbruchstraße. Nach weiteren zwei Jahren gab es 13 Albrecht-Filialen, sieben Jahre später bereits 30; ein zentraler Verwaltungsbau musste errichtet werden. 1955 waren es 100 Filialen, 1959 hatten die Albrechts 300 Geschäfte mit 90 Millionen DM Umsatz. Es folgte eine kurze Wachstumskrise und die Umstellung auf Selbstbedienung. 1970 hatte ALDI 600 Filialen mit einer Milliarde DM Umsatz und 1975 etwa 1000 Läden mit einem Umsatz von 6 Milliarden DM. Geschäftsniederlassungen gab es zu dieser Zeit in den Niederlanden, den USA, in Dänemark und Österreich. 1985 erwirtschafteten 2000 ALDI-Läden 17 Milliarden DM. Die Brüder wurden 1996 – 50 Jahre nach Übernahme des elterlichen Geschäfts – als reichste Deutsche eingestuft und belegten 2002 Platz drei der Welt-Milliardäre. Erst im Jahr 2003 war das Ende des ALDI-Wachstums in Deutschland erreicht, die Discounter-Konkurrenz ließ die Zahl der Läden stagnieren.1 Worin gründen das Geheimnis dieses schnellen Wachstums und der Erfolg von Karl und Theo Albrecht?
Daten und Informationen über Betriebsinterna von Aldi zu bekommen, war seit jeher schwer; denn ein betriebliches Strukturmerkmal der Albrechts ist (nach wie vor) die konsequente Abschottung des Unternehmens nach außen. Mitarbeiter wurden zu rigorosem Schweigen verpflichtet; Karl und Theo mieden die Öffentlichkeit bis zuletzt. Als Karl endlich zu einem Gespräch über sein Unternehmen bereit war, starb er 94-jährig.2 So sind wir beim Versuch unserer Interpretation über den Erfolg des Konzerns auf Sekundärquellen angewiesen. Dieter Brandes hat 1998 ein Buch veröffentlicht, das den Betrieb in seiner Erfolgsgeschichte von innen her ausleuchtet. Als langjähriger Geschäftsführer und seit 1975 Mitglied des Verwaltungsrates weist er darauf hin, dass der ALDI-Erfolg auch mit der ethischen Einstellung des Unternehmens zusammenhänge. ALDI sei in vielen Punkten ein „moralisches Unternehmen“.3 Er vertritt den Standpunkt, Geldverdienen an sich sei nichts Unmoralisches (pecunia non olet). Insofern lebten mit der Strukturbeschreibung des ALDI-Konzerns alte Tugenden wieder auf.
Eine der wenigen öffentlichen Beschreibungen des ALDI-Systems stammt aus einem Vortrag von 1953. Karl Albrecht betont darin die zwei wichtigsten Grundsätze des Unternehmens: das kleine Warensortiment und der niedrige Verkaufspreis. Auch mit einem kleinen Sortiment sei ein gutes Geschäft zu machen, weil damit die Unkosten des Betriebs sehr niedrig gehalten werden können. Bei der Kalkulation interessiere nur, wie billig eine Ware verkauft werden kann. Die Intention eines möglichst hohen Verkaufspreises wäre ökonomisch falsch und sei deswegen kein Management-Ziel. Beide Grundsätze seien nicht voneinander zu trennen. Eine Umsatzsteigerung ergebe sich dann, wenn die Werbung stark eingeschränkt ist und die Grundsätze strikt eingehalten werden. Theken und Regale sind einfach konstruiert, auf Dekorationen wird verzichtet. Das Warensortiment umfasste in der Anfangszeit 250 bis 280 Artikel und wurde bei ständiger Kontrolle bewusst klein gehalten. Es werden keine Parallelartikel geführt und bestimmte Waren überhaupt nicht verkauft. Der Grund dafür liege im Ziel einer wachsenden Umsatz- und Verkaufsgeschwindigkeit. Das Verkaufsprogramm soll nur umschlagsfähige Konsumartikel führen. In der Anfangszeit wurde auf eine Vorverpackung generell verzichtet, weil diese oft wesentlich teurer war als die gesamten Personalkosten, was sich wiederum auf die Waren ausgewirkt hätte. Es wurde immer nur der Markenartikel geführt, der am besten geht. Weiter gab es feste Kalkulationssätze, die das ständige Rechnen vermieden. Ein wesentliches Ziel war, den Kunden davon dauerhaft zu überzeugen, nirgendwo billiger einkaufen zu können als bei ALDI. Werde dieses Ziel erreicht, nehme der Kunde alles dafür in Kauf.
Weil die aus der notwendigen Sparsamkeit entstandene Vermeidung von Verschwendung konsequent eingehalten wurde, avancierte ALDI 1980 zum erfolgreichsten Lebensmittel-Einzelhändler aller Zeiten. Bis in die Neunzigerjahre hat sich am Konzept des Unternehmens nichts geändert. Die landläufige Meinung vieler Analysten war, ALDI müsse sein Sortiment irgendwann ausdehnen und andere, bisher nicht praktizierte Prinzipien aufnehmen, um weiteres Wachstum erzeugen und so dem Wettbewerbsdruck standhalten zu können. Aber ALDI verfolgte die eigene Politik, die eigenen Grundsätze konsequent weiter. Die Artikelzahl wurde im Wesentlichen nicht erhöht, obwohl nach Erreichen einer bestimmten Umsatzgröße auch Non-Food-Aktionsartikel und Obst- und Gemüseartikel in das Sortiment aufgenommen wurden. Der Erfolg des Unternehmens ist nach wie vor ungebrochen.
1. Das ALDI-Konzept
Der heute inflationär verwendete Begriff „Unternehmensphilosophie“ ist bei ALDI nicht vorhanden. Das Unternehmen passte sich zwar schrittweise an die Bedingungen des Wettbewerbs und die Märkte an, die dahinterstehende Strategie war aber eher intuitiv geleitet, das praktische Handeln durch wachsende Reflexion kontrolliert. Nach dem ersten Jahrzehnt schien sogar alles auf einen Zusammenbruch hinzusteuern, als 1959 die aufkommenden Selbstbedienungsmärkte die Preise von Albrechts Tante-Emma-Läden unterboten. Aus der Not musste ein neues Geschäftsmodell entwickelt werden. Die Albrechts stellten auf Selbstbedienungsläden unter dem Namen „Alio“ um, die aber mit roten Zahlen floppten. Das Unternehmen stagnierte im Jahr des Mauerbaus 1961, der Unternehmenskurs war desorientiert, der Erfolg gefährdet. In dieser Krisenzeit teilte sich das Unternehmen in ALDI Nord und ALDI Süd, ein wichtiger Schachzug, der dem Konzern weiteres Wachstum bringen sollte.4 Zur selben Zeit teilte sich Deutschland in Ost und West.
ALDI hatte nie ein ausgeklügeltes Geschäftskonzept entwickelt, sondern hielt sich an einige wichtige Grund-Prinzipien: Askese, Bescheidenheit, Detailarbeit und strenge Konsequenz.5 Diese vier für wirtschaftliche Analysen wenig aussagekräftigen Faktoren entstammen nicht so sehr dem rein ökonomisch ausgerichteten Denken, als vielmehr einer menschlich orientierten Lebenseinstellung. Sie zielt auf den Erfolg der Gemeinschaft, hier der Kundenklientel. Aus dem Gelingen des Sinnganzen kann auch individueller Erfolg hervorgehen. Die vier Prinzipien offenbaren ein Geschäftsbewusstsein, das zwar den eigenen Erfolg anstrebt, diesen aber nur durch den Erfolg des Gemeinwohls garantiert sieht. Eine solche Grundhaltung ist deshalb nicht „unternehmensphilosophisch“ abgegrenzt, sondern überschreitet die Grenzen partikularer Unternehmenspolitik; sie gründet in einer ethischen Einstellung. Es ist ein besonderes Verdienst von Dieter Brandes, diese vier Grundprinzipien herausgestellt zu haben, denn sie laufen für die meisten Menschen unbewusst und meist selbstverständlich, d.h. unerkannt ab. Wenn diese Eigenschaften analysiert werden, bewegen wir uns auf geisteswissenschaftlichem Gebiet, denn hier wird etwas ins Bewusstsein gehoben, das dem Menschen als Menschen eine besondere Stellung verleiht. Askese, Bescheidenheit, Detailarbeit und strikte Konsequenz sind als ethische Qualitäten schon im Altertum bekannt. Hier war der Grundsatz noch selbstverständlich, der besagte, nur in einem Staat, in dem es weder Armut noch Reichtum gebe, können sich die edelsten Sitten entwickeln.6 Von solchen Einsichten sind wir heute weit entfernt. Blickt man auf die Realität, müssen wir uns eingestehen, dass das Gegenteil in unserer globalisierten Gesellschaft gerade Gestalt annimmt.7 Ein unternehmerischer Erfolg, der sich ökonomisch ausweist, liegt aber primär im Vollzug allgemeinmenschlicher – und insofern nicht bloß ökonomischer – Qualitäten begründet. Was den Brüdern möglicherweise nicht bewusst war, was sie aber praktizierten (der Umfang wird noch zu untersuchen sein), war der Vollzug bereits vorliegender alter ethischer Einsichten.
Auf der Grundlage dieser Prinzipien galten bei Aldi weitere Strukturen, wie das der Geheimhaltung und der konsequenten Dezentralisation. Mit der klugen Politik der Konstruktion einer Familienstiftung verhinderte man zudem die Zerlegung des Unternehmens durch gerichtliche Auseinandersetzungen.
2. Der ALDI-Unternehmens-Geist
Für den Erfolg wesensbestimmend sind die unsichtbaren Dinge, die ungeschriebenen Regeln des Unternehmens, die – bis auf eine Ausnahme in der Stellenbeschreibung8 – bei ALDI niemals festgehalten worden sind. Sie bestimmen als kulturelle Werte und Normen den Betrieb von innen her und steuern