Yvettes Traum. Florentine Hein

Yvettes Traum - Florentine Hein


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Du bist die erste, die erfährt, wenn sich etwas Neues ergibt, fest versprochen. Ich melde mich, wenn es weitergeht. Gönn dir ein paar entspannte Tage, ich weiß, wie du geschuftet hast in der letzten Zeit …“

      Yvette hörte nicht mehr zu. Damit war alles gesagt. Sie hatte es nicht anders erwartet.

      Sie bedankte sich artig, klemmte den Schwanz ein und schlich davon.

      Draußen spürte sie den Wind. Er wirbelte kleine Blätter durch die Luft.

      Ich wirbel auch, dachte Yvette.

      Was hatte Papa einmal gesagt?

      „Es gibt einen kleinen Vogel, der immer fliegen muss, sein ganzes Leben lang. Er fliegt beim Essen, er fliegt beim Schlafen. Er muss immer in Bewegung sein, darf sich niemals ausruhen. So bist du auch, Yvette. Aber das Fliegen, das zehrt. Und irgendwann stürzt der kleine Vogel tot vom Himmel. Pass auf dich auf, meine Tochter.“

      Was war das eigentlich für ein Vogel? Stimmte es oder hatte Papa die Geschichte für sie erfunden?

      Wo konnte der kleine Vogel zur Ruhe kommen? Wo konnte er unterschlüpfen?

      „Du hast ja einen Freund – zieh doch zu ihm.“

      Mister Ex stellte sich das so einfach vor. Sie fühlte sich dazu nicht bereit.

      Nummer 27. Es war nur eine Affäre …

      Und doch – wenn sie aus der Wohnung musste, eine andere würde sie hier in der Großstadt nicht so einfach finden.

      Der kleine Vogel brauchte einen Ort, an dem er sich verstecken konnte. Zumindest für eine Weile.

      Es begann zu regnen. Yvette richtete sich auf. Sie sollte das Weinen dem Himmel überlassen. Was sprach dagegen, Nummer 27 zu fragen? Klarheit schaffen, am besten gleich. Er würde auf der Arbeit sein. Vielleicht konnte sie ihn zu einer Kaffeepause einladen. Nicht weiter darüber nachdenken. Einfach tun.

      U-Bahn und Füße trugen sie zu dem schicken Bürogebäude. Mehrfach hatte sie ihn hier schon abgeholt, doch das Gebäude selbst hatte sie noch nie betreten. Sollte sie wirklich? Ja, Yvette, auf, du hast nichts zu verlieren!

      Wirklich nichts?

      Nun mach schon!

      Sie atmete tief durch und trat an den Empfang.

      „Guten Tag, ich möchte zu David. David Mehringer. Sagen Sie einfach, Yvette möchte ihn sprechen.“

      Der Empfangsdame nickte vornehm und griff zum Telefon. Yvettes Herz klopfte. Es dauerte –

      „Es tut mir leid. Ich erreiche gerade weder ihn noch seine Sekretärin. Würden Sie noch einen Moment warten? Sie können sich dort drüben hinsetzen.“

      Sollte sie? Ja, jetzt war sie hier. Jetzt würde sie auch warten. Yvette drehte sich um, entdeckte eine Reihe Stühle, die lustlos an der Wand lehnten. Darüber ein Gemälde. Eine schlanke Frau, rot gekleidet. Sie hatte die Hand erhoben und schaute in sie hinein, wie in einen Spiegel. Ihr Blick hatte etwas Verschmitztes, etwas Spitzbübisches.

      Yvette trat näher. Versuchte unwillkürlich, den Blick nachzuahmen. Die Lippen ganz leicht nach oben verzogen, etwas schief. Isa blickte manchmal so, wenn sie was ausgeheckt hatte. Heimlich amüsiert.

      Die Hand der Frau war auffallend groß. Was fand sie darin, in dieser Hand?

      „Gefällt Ihnen das Bild?“

      Yvette zuckte zusammen. Ein älterer Herr hatte sie angesprochen. Er war elegant gekleidet, stämmig, weißes Haar. Eine Aura der Macht ging von ihm aus.

      „Ja, es gefällt mir sehr. Sie wirkt so glücklich, zufrieden mit sich. Wer hat das gemalt?“

      „Ein zeitgenössischer Künstler. Ich habe kürzlich durch Zufall seine Ausstellung besucht. Das Bild war Liebe auf den ersten Blick.“

      Er musterte das Gemälde mit väterlichem Stolz. Dann wandte er sich wieder Yvette zu.

      „Kennen Sie sich aus mit Kunst?“

      „Mit Bildern weniger. Ich bin Restauratorin, arbeite manchmal fürs Museum. Mein Fachgebiet ist Stein, hauptsächlich Skulpturen.“

      „Ach, waren Sie an der Ausstellung, die gerade läuft, beteiligt? Ich habe die Vernissage besucht.“

      Die hatte sie diesmal geschwänzt. Isa schrieb gerade ihre letzte Abi-Klausur und sie feierten anschließend zusammen. Bestellten Pizza, eine Flasche Sekt dazu, dann warfen sie eine DVD ein und machten es sich mit einem schnulzigen Liebesfilm gemütlich. Wie lange schien das jetzt schon her zu sein?

      Der Herr vor ihr sah sie noch immer an. Scheinbar wartete er auf Antwort.

      „Ja, ach ja, ich habe den Ausstellungskatalog gemacht.“

      Er schien entzückt.

      „Den Katalog? Er ist wirklich herausragend geworden.“

      Yvette errötete. Das Lob tat gut. Der Katalog hatte sie viel Zeit und Nerven gekostet. Doch er beschrieb wenigstens eine Ausstellung, für die sie sich wirklich begeistern konnte.

      „Es sind auch großartige Skulpturen in der Sammlung! Haben Sie den Geschmückten Faun gesehen?“

      Der freche Waldgott war ihr absolutes Lieblingsstück. Sie hatte lange mit Berta diskutiert, damit sie ihm im Katalog eine Doppelseite einräumen konnte.

      „Der kleine Kerl mit dem Blütenkranz auf dem Kopf? Tatsächlich, eine fantastische Arbeit! Er hat mich stark an den tanzenden Faun aus Pompeji erinnert.“

      Yvette nickte, er hatte es erfasst.

      „Ja, obwohl der aus Bronze gegossen ist und unserer aus Stein gehauen. Es gibt allerdings Vermutungen, dass die Künstler sich kannten oder zumindest voneinander inspiriert wurden. Wir haben schon spekuliert, dass unser Künstler der ältere war und deshalb auch sein Faun eine geschmückte Glatze hat.“

      Sie kicherte, ihr Gegenüber lächelte mild.

      „Man hat ihn erst kürzlich in einer Baugrube entdeckt, oder? Waren Sie an der Bergung und der Restauration beteiligt?“

      Yvettes Blick verdüsterte sich. Wie gern! Wie gern wäre sie das gewesen!

      Vielleicht, wenn ihr Leben einen anderen Weg genommen hätte … Draußen zu arbeiten, Fundstücke zu bergen oder wenigstens wieder selbst zu restaurieren, anstatt sie am Ende nur zu ordnen und zu loben … In ihr regte sich ein längst verschüttetes Verlangen.

      „Leider nein. Allerdings hat mein Mentor an der Uni, Professor Morillo, einen Hauptteil der Arbeiten geleitet.“

      Derselbe, der ihr nach ihrem Abschluss angeboten hatte, gemeinsam an der Restaurierung einer alten Kapelle zu arbeiten. Doch dann entdeckte sie ihre Schwangerschaft – Zwillinge! Mit allen Komplikationen, die man sich nur denken konnte. Sie musste liegen und liegen und liegen. Die Fruchtblase hielt, doch ihr Traum zerplatzte in tausend Stücke.

      „Entschuldigen Sie“, mischte sich die Empfangsdame mit verkniffenen Lippen ins Gespräch. „Gerade habe ich die Sekretärin erreicht. Herr Mehringer ist zur Zeit nicht im Haus, er wird erst in ein paar Stunden zurückerwartet. Soll ihm etwas ausgerichtet werden?“

      „Nein, nein, danke, lassen Sie, nicht so wichtig …“

      Die ganze Idee war blöd gewesen! Was sollte sie dort, in seiner feinen Wohnung? Nein, dort gehörte sie nicht hin. Dort war seine Welt, nicht ihre. Sie wollte nicht wieder abhängig sein von einem Mann! Es musste eine andere Lösung geben. Sie würde, sie musste sie finden! Ihr Blick wanderte zu dem Gemälde. Vielleicht sah die Frau in ihrer eigenen großen Hand das Glück?

      Yvette wandte sich zum Gehen.

      „Kann ich Ihnen dann vielleicht weiterhelfen?“, fragte der ältere Herr. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Leonberg, zufällig leite ich dieses Unternehmen.“

      Ups! Das konnte nur der große Chef sein. Nummer 27 erzählte öfter


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