Wer auf dich wartet. Gytha Lodge
Telefon klingelte, und er seufzte, als er die Nummer auf dem Display sah.
»Zoes Vater«, sagte er zu O’Malley. »Sehen Sie sich um, während ich mit ihm spreche.«
Er wurde nie leichter, dieses erste Gespräch mit der Familie. Zoes Vater hatte unter erstickten Tränen kaum ein Wort herausgebracht und das Telefon an seine Frau weitergereicht, die Jonah nur immer wieder gefragt hatte, warum es passiert war. Natürlich hatte er keine Antwort für sie. Das hatte er bei diesem ersten Anruf selten.
Er hatte sein Möglichstes getan, sie zu beruhigen, und ihnen versichert, dass der Tod wahrscheinlich schnell und schmerzlos eingetreten sei. Er hatte überlegt, ihnen zu erklären, dass das warme Badewasser den Prozess des Verblutens beschleunigt hatte, doch das waren Details, mit denen er sie noch nicht belasten wollte. Im Moment hatten sie genug zu verkraften.
»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit«, hatte Zoes Mutter irgendwann verlangt. »Es ist doch kein … Sie hat sich das nicht selbst angetan, oder?«
Jonah hatte vernehmlich ausgeatmet. »Das wissen wir leider erst, wenn wir den Tatort genauer untersucht und ihre letzten Tage rekonstruiert haben.«
Er hatte sie gefragt, ob sie nach Southampton kommen wollten. Dabei hatte er an die formelle Identifizierung und all die Dinge gedacht, die er ihnen persönlich sagen musste.
»Es ist nicht notwendig, sofort herzukommen«, fügte er hinzu. »Häufig wird die Identifikation auch per Video-Link vorgenommen.« Er sagte nicht, weil es nicht so qualvoll ist.
»Nein«, hatte Zoes Mutter erklärt. »Wir wollen kommen. Sofort. So bald wie möglich.«
Während er auf die Spurensicherung wartete, überlegte Jonah, um welche praktischen Fragen er sich kümmern musste. Heute würde wahrscheinlich ein sehr langer Tag werden. Er schlug im Geist seinen Kalender auf, dankbar dafür, dass er freitagsabends nur selten Termine hatte. An Samstagen versuchte er normalerweise, seine Mutter zu besuchen, aber die war zum ersten Mal seit acht Jahren nicht da.
Es hatte ihn komplett überrascht, dass seine vom katholischen Glauben abgefallene Mutter von der örtlichen anglikanischen Gemeinde adoptiert worden war. Die Mitglieder hatten entschieden, dass sie Hilfe brauchte, was Jonah schlecht bestreiten konnte, und hatten einen Turnus von Aktivitäten und Besuchen organisiert, der die Zeit, die sie allein mit dem Alkohol verbrachte, drastisch reduziert hatte. Das Ganze war eine Riesenerleichterung für Jonah gewesen, ungeachtet der leicht vorwurfsvollen Blicke, die ihm die Kirchendamen zuzuwerfen pflegten, wenn sich ihre Wege kreuzten. Er wartete allerdings immer noch darauf, dass seine Mutter sie alle zu hassen begann. Oder dass sie sie so wüst beschimpfte, dass man ihr nicht verzeihen konnte. Sie hatte die Angewohnheit, alle Bemühungen, ihr zu helfen, zunichtezumachen. Samstag konnte er also problemlos den ganzen Tag arbeiten. Vielleicht würde er die Einladung zum Polterabend seines Radfahrerkumpels Roy am Samstagabend absagen müssen. Selbst wenn er sein Tagespensum rechtzeitig erledigte, wollte er danach vermutlich nicht mehr ausgehen. Mordermittlungen und trinkselige Abende passten in der Regel nicht gut zusammen.
Seine Leute hatten wahrscheinlich eigene Pläne. Pläne, die sie weniger begeistert aufgeben würden. Es wurde Zeit, Lightman und Hanson über die neuesten Entwicklungen zu informieren.
Juliette Hanson war vollkommen in ihre finanzielle Schnitzeljagd vertieft, als der Chef anrief. Sie ließ das Telefon mindestens viermal klingeln, während sie noch rasch das Zwischenergebnis notierte, und versuchte, nicht allzu verärgert zu klingen, als sie abnahm.
»Chef?«
»Ist Lightman in der Nähe? Dann kann ich Sie beide gleichzeitig auf Stand bringen.«
»Ja, er ist hier«, sagte Hanson, als ihr Blick Lightmans traf. »Ich stelle den Anruf in ein Besprechungszimmer durch.«
Nachdem sie den Anruf wieder aufgenommen hatten, lauschten beide schweigend, während Sheens schilderte, wie man Zoe gefunden hatte.
»Alles sieht nach Selbstmord aus«, sagte der Chef. »Nur dass man uns erzählt hat, sie sei angegriffen worden. Deshalb ist der erste Punkt auf meiner Liste, ihren Freund aufzuspüren. Außerdem brauche ich einen von Ihnen am Tatort, und ich fürchte, für denjenigen wird es ein langer Abend werden. Die Spurensicherung ist gerade eingetroffen, die Familie ist unterwegs, und ich werde eine Obduktion beantragen.«
»Tut mir leid, Sir. Ich kann nicht«, sagte Lightman, und Hanson sah ihn überrascht an. »Ich muss heute um vier Uhr los.«
Hanson hätte beinahe eingewandt, dass er unmöglich etwas vorhaben konnte. Es war Freitag. Pub-Abend. Freitags gingen sie immer zusammen in den Pub. Zumindest hatten sie das in den letzten vier Monaten getan. Wenn sie nicht völlig in irgendeinem Fall versunken waren, gingen sie die Straße runter zum Anchor und blieben bis acht oder neun. Lightman trank nie mehr als zwei Bier und redete selten viel, aber er kam immer mit.
»Kein Problem«, sagte Sheens. »Juliette?«
»Ich kann kommen«, sagte sie und notierte sich die Adresse, die er ihr nannte.
Als sie den Anruf beendeten, ertappte sie sich dabei, Lightman genau zu mustern. Er schrieb noch etwas auf und erhob sich, so schwer zu durchschauen wie immer. Dabei war sie extrem neugierig zu erfahren, was los war.
»Typisch«, sagte sie und stand ebenfalls auf. »Ich habe drei Wochen gebraucht, um mich in die Erpressungssache einzuarbeiten, und jetzt, wo ich endlich Fortschritte mache, werde ich zu einem anderen Fall abberufen.«
»Ah, tut mir leid«, sagte Lightman mit einem Grinsen. »Meine Schuld. Du hast einen gut bei mir.«
Und damit verließ er das Besprechungszimmer ohne ein weiteres Wort. Hanson sah ihm schlechtgelaunt nach. Eine Erklärung hätte nicht wehgetan, dachte sie.
Aber vielleicht brauchte sie auch gar keine Erklärung. Es war Freitagabend, und Lightman hatte offenbar keine Probleme, weibliche Aufmerksamkeit anzuziehen. Irgendeine Frau, die versuchte, ihn anzumachen, gehörte zum festen Programm ihrer Pub-Abende. Und sie wusste, dass er schon mit Frauen ausgegangen war.
Gut, dachte sie. Soll er zu irgendeinem Date gehen, während ich die harte Arbeit erledige.
4. März – zwanzig Monate vorher
Die Hochzeitsparty war in vollem Gange und hatte sich in zwei Gruppen geteilt: Die eine drängte sich lautstark und erhitzt an der langen schmalen Bar des Hotels, die andere war eine dezent beleuchtete Plauderrunde in dem größeren Speisesaal auf der anderen Seite der Lobby, wo immer noch sieben oder acht Tische besetzt waren.
Zoe hatte sich auf den Weg zur Bar gemacht, jedoch irgendwann den Versuch aufgegeben, einen Drink zu bestellen. Das Problem mit kostenlosen Getränken war, dass alle zu viel bestellten, weshalb alle lange warten mussten und die Situation weiter verschlimmerten, indem sie, wenn sie endlich an der Reihe waren, Getränke auf Vorrat orderten. Deshalb kehrte Zoe mit leeren Händen in den Speisesaal zurück, wo Angeline in ein ernstes Gespräch mit Maeve vertieft war.
Vorhersehbarerweise hielt Maeve Angeline einen leidenschaftlichen Vortrag über positives Denken.
»Hör zu, also, ich meine, ich weiß, dass ich dauernd darüber rede, aber es geht nicht nur darum, sich zu ermahnen, dass man sich selbst aufmuntern muss. Es geht darum, sich zu entscheiden, glücklich zu sein. Sich innerlich und auch laut zu sagen, dass man ein wertvoller Mensch ist.« Maeve hielt sich eine offene Hand vors Gesicht. »Ich sage es mir vor dem Spiegel. Ich sage: ›Ich bin stark, und ich bin schön, und ich bin liebenswert.‹ Und es hilft.«
Zoe musste lächeln. Maeve glaubte so entschieden an die Kraft positiven Denkens, wie sie an Gott glaubte, und sie wiederholte entschlossen ihre persönlichen Mantras darüber, wie sehr sie sich und all jene liebte, die sie verschmähten. Das Problem war nur, dass Maeve von Natur aus alles andere als ein geduldiger und optimistischer Mensch war, und egal wie oft sie sich all diese Dinge einredete, schimmerte manchmal eine ehrlichere Version ihrer selbst durch. Eine, die die Nase von allem voll hatte und andere Menschen bedürftig und nervig fand.
Victor, der