Gift. Sandra Schaffer

Gift - Sandra Schaffer


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weglegen, als ihre Mutter weitersprach.

      „Abby? Abby, bist du das? Wenn du es bist, dann bitte, sag doch etwas? Bitte, Baby, rede mit mir!“ Diese Mischung aus Hoffnung und Traurigkeit in der Stimme ihrer Mutter versetzte Abby einen Stich ins Herz.

      „Mom“, flüsterte sie.

      „Oh, Abby, es tut so gut, deine Stimme zu hören. Geht es dir gut, Schätzchen? Du klingst so niedergeschlagen. Was ist passiert?“

      Abbys Mutter hatte immer gewusst, wenn es Abby nicht gut ging, egal wie sehr sie auch betont hatte, dass alles in Ordnung war, ihre Mutter wusste, wenn es nicht stimmte. Selbst jetzt, durchs Telefon hatte sie gespürt, dass Abby Kummer hatte. Einen Kummer, der sie so weit brachte, die Funkstille mit ihrer Mutter zu beenden.

      Doch Abby erwähnte Martin nicht. Sie war sicher, hätte sie es getan, hätte sich ihre Mutter sofort ins nächste Flugzeug gesetzt und wäre den weiten Weg von Chicago nach New Orleans gekommen, selbst dann, wenn sie es sich nicht hätte leisten können. Sie konnte mit ihrer Mutter darüber sprechen, wenn alles vorbei war. Nur wie sollte es je vorbei sein, wenn sie nicht wusste, ob die Polizei den Täter finden konnte und sie keine Hilfe bekam, bei dem Versuch sich allein auf die Suche zu begeben? Trotzdem, sie konnte jetzt nicht über Martin reden. Es war zu schmerzhaft, außerdem kannte ihre Mutter ihn nicht.

      „Ich hatte eine schwere Woche“, sagte Abby stattdessen, weil sie einfach nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen. So langsam bereute sie, überhaupt erst die Nummer gewählt zu haben. Ihre Mutter war ihr mittlerweile so fremd geworden, als wäre sie nur irgendeine Bekanntschaft aus ihrer Vergangenheit, die sie nun wieder getroffen hatte. Eine peinliche Begegnung, bei der keiner wusste, was er sagen sollte, und deshalb entweder herum schwafelte oder peinlich berührt schwieg.

      „Wir haben alle manchmal schlimme Wochen, Schatz. Erzähl mir davon. Du weißt doch, darüber zu sprechen, kann Wunder wirken.“

      Alles Schwachsinn! „Ja, mag sein, aber ich habe jetzt leider keine Zeit, mich darüber zu unterhalten. Ich habe viel zu tun. Tut mir leid, dass ich angerufen habe.“

      „Nein, Schatz, das muss es nicht. Bitte, leg nicht auf!“

      Abby hörte das Flehen, ignorierte es aber. „Mach’s gut, Mom“, sagte sie stattdessen und beendete das Gespräch. Warum sie das machte, wusste sie nicht, nur, dass sie es für einen großen Fehler hielt, überhaupt erst angerufen zu haben. Sie hätte alles so belassen sollen, wie es war. Ihre Mutter oben in Chicago mit ihrem Leben, sie hier unten mit ihrem. Zehn Jahre lang hatte es so prima funktioniert, warum jetzt etwas dran ändern? Weil sie deine Mutter ist und ihr einander nicht fremd sein solltet!, hätte Martin in diesem Moment gesagt. Aber jetzt, da er ihr nicht mehr ins Gewissen reden konnte, wer sollte sie dann zu überreden versuchen, sich endlich mit ihrer Mutter an einen Tisch zu setzen und über alles zu sprechen?

       13

      O’Leary hatte alles überprüft, was es zu Martin Roberts in Erfahrung zu bringen gab. Er hatte seine Finanzen durchgesehen, in denen es keinerlei Ungereimtheiten gab. Nicht für einen reichen Mann zumindest. Er hatte eine Abbuchung für zwei Flugtickets nach New York gefunden, die drei Wochen zurücklag. Da die Roberts ein Haus in den Hamptons hatten, war eine dreitägige Reise dahin nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig wie eine Abhebung von fünftausend Dollar.

      O’Leary hatte mit der Gerichtsmedizin gesprochen und mit der Spurensicherung. Doch nichts. Absolut nichts! Sie kannten zwar das Gift, welches ihn getötet hatte – das Gift des Oleanders –, aber das war auch schon alles. Es gab keine Anzeichen für eine Affäre, keine Anzeichen dafür, dass er Feinde hatte, kein Motiv, nicht einmal Verdächtige. Es war, als hätte jemand den falschen Mann erwischt!

      Detective Kevin O’Leary, dessen Stiefvater, Henry O’Leary, auch Polizist gewesen war, mittlerweile hatte er die Stelle des Commissioner inne, hatte schon als Zehnjähriger gewusst, dass er in dessen Fußstapfen treten wollte. Bisher hatte ihm sein Job auch immer Spaß gemacht. Es hatte ihm Genugtuung verschafft, in einem von Weißen dominierten Gebiet für Recht und Ordnung sorgen zu können. Dabei hatte er sogar in Kauf genommen, ein einsames Leben ohne Familie zu führen. Wenn er familiäres Umfeld brauchte, konnte er jederzeit zu seiner kleinen Schwester gehen und mit seinen Nichten und Neffen den Tag verbringen. Doch für eine eigene kleine Familie hatte er nie die Zeit gefunden. Sein Job, seine Kollegen, waren seine Familie, das musste reichen.

      Dieser Fall aber gab ihm das Gefühl, wieder Anfänger zu sein, gerade frisch von der Polizeischule, ohne recht zu wissen, was es bedeutete, Gesetzeshüter zu sein. Noch nie war ihm ein Fall untergekommen, bei dem es keinerlei Hinweise gab. Er war mit seinem Problem sogar schon zu seinem Vater gegangen.

      „Du musst tiefer graben, Kevin. Es gibt immer mindestens einen Fall in der eigenen Laufbahn, bei dem man glaubt, daran zu zerbrechen. Und das wird man auch, wenn man es zulässt. Also lass nicht zu, dass dieser Fall dich fertig macht. Befördere jedes noch so kleine Detail über das Leben dieses Mannes ans Licht, dann findest du auch den Moment, als es aus den Fugen geriet.“

      Es war ein guter Rat, dennoch nicht leicht umzusetzen. Wie sollte man etwas ans Licht holen, das es gar nicht gab? Der Mann war so sauber wie ein nagelneues Auto, hatte noch nie gegen das Gesetz verstoßen, nicht einmal einen Strafzettel wegen zu schnellem Fahrens oder Falschparkens hatte er je bekommen. Der Kerl war ein Heiliger. Also warum hatte jemand seinen Tod gewollt?

       14

      Mark hatte darüber nachgedacht, bei Abigail Roberts vorbeizufahren, ihr von seinem Gespräch mit dem Barkeeper zu erzählen, entschied sich dann aber doch dagegen. Vielleicht war es besser, wenn sie noch nicht erfuhr, dass seine Neugier doch gesiegt hatte. Stattdessen fuhr er nach Hause.

      Mark hatte sich gerade hingelegt und wollte noch ein paar Stunden Schlaf finden. Immer wenn er einen Fall hatte, egal ob er nur einen untreuen Ehemann entlarven oder einen Mord aufdecken sollte, ging ihm so viel durch den Kopf, dass er nachts nicht richtig zur Ruhe kam. Sobald er sich hinlegte, fing sein Kopf an, auf Hochtouren zu arbeiten. Gerade als er doch endlich einschlief, klingelte sein Handy.

      „Hallo?“, fragte er.

      „Mr. Fallon? Hier Creek, der Barmann.“

      Mark setzte sich auf und blickte auf seinen Radiowecker. Zwei Uhr fünfundvierzig. Oh Mann!

      „Mr. Creek, es ist mitten in der Nacht! Was kann so wichtig sein, dass es nicht bis zum Morgen warten kann?“

      „Verzeihung, Mr. Fallon, aber mir ist noch etwas eingefallen.“

      Mark holte tief Luft und mahnte sich zur Ruhe. „Und was?“

      „Der Tag, an dem der Mann starb, da fragte ich ihn, ob er auf irgendwen wartete. Ich war neugierig, wissen Sie?“

      „Mr. Creek, bitte, kommen Sie zur Sache!“

      „’tschuldigung. Er sagte, er wartete auf eine Frau.“

      „Auf eine Frau? Das hat er tatsächlich geantwortet?“ Plötzlich war Mark wieder hellwach.

      „Ja, Sir, hat er.“

      „War diese Frau dort?“

      „Wenn ja, dann ist sie mir nicht aufgefallen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann, aber ich dachte, das könnte wichtig sein.“

      Das könnte es tatsächlich! „Danke, Mr. Creek.“ Mark legte auf, ehe der Mann am anderen Ende der Leitung noch etwas sagen konnte.

      * * *

      Mark saß in seinem Büro und grübelte. War es vielleicht doch eine Affäre? Wenn nicht, aus welchem Grund sollte ein Mann sonst abends in einer Bar auf eine Frau warten? Eine schwarze Witwe? Oder doch nur eine verschmähte Geliebte?

      Mark klappte das Notebook auf und gab Giftmord, New Orleans und Bar in die Suchmaschine ein. Mehr als eine Million Treffer erschienen auf dem Bildschirm. Zeitungsausschnitte, die von Frauen erzählten, die ihre Männer mit einem Tablettencocktail vergifteten oder auch andere Frauen, ihre Konkurrentinnen. Selbst wie man einen Giftmord


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