Weltenleuchten. Martin Müller

Weltenleuchten - Martin Müller


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verstanden hat. Sie ist Politikwissenschaftlerin und hat zuvor für ein Selbsthilfenetzwerk in Berlin, dann in Madagaskar für die Friedrich Ebert Stiftung gearbeitet und war anschließend für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit tätig. Jetzt möchte sie endlich ihren lang gehegten Traum verwirklichen und Naturheilkunde lernen. Unsere Kinder sind inzwischen verstreut. Durch die modernen Medien kann man mittlerweile einen gutdosierten, regelmäßigen Austausch über Skype oder Videotelefonie pflegen. Es ist nicht wirklich erheblich, dass Max in Karthum und Maike in Kiel ist und Verena, die noch zuhause lebt, gerade von einem Besuch bei Freunden zurückkommt und im Zug von Frankfurt gen Heimat unterwegs ist.

      Nach so langer Abwesenheit vom Allgäu sind meine Familie und ich im Dorf wieder gut angekommen und aufgenommen worden. Was mir allerdings ein bisschen fehlt, sind die früher regelmäßigen Restaurantbesuche mit „Schnitzel Italiano“ bei Linda und Norick im Weilerle Inn. Die beiden sind mittlerweile in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. Ich freue mich über Fahrrad-, Berg- und Skitouren mit Freunden. Auch darüber, dass der langjährige Freund meines Vaters, Herrmann, mir trotz seiner inzwischen 80 Jahre noch hilfreiche Tennisstunden erteilt. Ich freue mich ebenfalls über das abendliche Faust- und Volleyballspielen mit alten Bekannten sowie die winterliche Skigymnastik in der Sporthalle, die beiden Chöre, bei denen ich die Bassstimme verstärken darf und die wöchentliche Hausmusik bei einem Glas Wein mit Gotthard.

      Es hat nicht immer so entspannt ausgesehen in meinem Leben; aber jetzt fühlt sich gerade alles gut an. Was künftig noch kommt ist mein LebenPlus! Während ich den letzten Satz aufschreibe, kommt mir kurz der Gedanke, ob ich das wirklich schon jetzt mit meinen 66 Jahren beurteilen könne und lösche ihn wieder. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Tatsächlich ändert sich jetzt, ein paar Wochen später, die gewohnte Gegenwart sogar bei uns im beschaulichen Oberallgäu. Es bleibt nichts wie es war, mit der beginnenden weltweiten Covid 19-Pandemie. Sie stellt unser bisheriges Leben auf den Kopf. Bisher durften meine Familie und ich, wie auch viele andere Mitteleuropäer, unser Leben als Privilegierte verbringen. Wenn es darauf ankam, konnten wir doch bisher alle Probleme immer schnell in den Griff bekommen. Die schlimmen Ereignisse trafen in unserem zurückliegenden Leben immer nur die anderen. Das würde diesmal vielleicht anders sein. Jetzt sind plötzlich alle Gesellschaftsgruppen gefährdet, egal ob arm oder reich. Das Virus scheint keine Ausnahmen zu machen. Aber wird es wirklich so sein? Was wird der Zusammenbruch der Lieferketten zum Beispiel für Textilarbeiter_innen in Bangladesch bedeuten? Sind Ausgangssperren und Abstandsempfehlungen für Arbeitsmigrant_innen und Tagelöhner in Megastädten überhaupt sinnvoll und machbar? Es fühlt sich jedenfalls gut an, dass unsere Familie, bis auf unseren Sohn Max, diese Krise zusammen und zuhause verbringen darf. Er muss als Krisen- und Sicherheitsmanager der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Karthum die Stellung halten. Viele Kolleg_innen mit unterschiedlichen Nationalitäten warten in Karthum auf eine Möglichkeit, aus dem armen Sudan mit seiner schlechten Versorgung und seinem maroden Gesundheitssystem in Richtung Heimat ausreisen zu können. Max wird das Land vermutlich als Letzter GIZler -hoffentlich gesund- verlassen, oder doch vor Ort durchhalten bis die Arbeit irgendwie weitergeht?

      Bei der Dauerpräsenz der „Corona-Krise“, in der sich das Leben so „gedämpft“ anfühlt, müssen wir uns -wie auch der Rest der Welt- jeden Tag ernsthaft bemühen, uns gegenseitig von diesem wenig erbaulichen Thema abzulenken. Wir sind natürlich in Sorge um Max und um die Älteren und Kranken in unseren erweiterten Familien sowie Freunde und Nachbarn. Auch die Weltwirtschaft wird nicht ohne beträchtliche Einbrüche davonkommen. Steigende Arbeitslosigkeit und Armut wird in vielen Regionen die Folge sein. Wir versuchen, mit Gesellschaftsspielen und ausgedehnten Spaziergängen auf andere Gedanken zu kommen. Für mich funktioniert das am besten, wenn ich mich zwischendurch mit Schreiben ablenke. Und so vertiefe ich mich immer wieder in das, was man Erinnerung nennt und sich in meinem Kopf wie ein wirres Labyrinth an Gedankenfetzen anfühlt. Es ist wie mit den alten, unbeleuchteten Tunnels. Zuerst sieht man an der Einfahrt noch ein bisschen, dann kommt das Dunkel und man ist froh, sich überhaupt noch mitten auf der Straße halten zu können und hofft schließlich auf Licht am Ende des Tunnels.

       Meine Kindheit im Allgäuer Alpenvorland

      Ich war nun sechs Jahre alt und liebte es, meine Kindheitstage draußen zu verbringen. Die Eltern waren meist nachsichtig mit mir, wenn ich zu spät nachhause kam. Sie waren voller Sorge, aber froh, dass ich mich dem normalen Bubenleben stellte und mich in dieser nicht zimperlichen Oberallgäuer Gemeinschaft behaupten konnte.

      Vor unserem Gartenhäuschen

      Die Sorgen meiner Eltern hatten einen guten Grund. Ich war schon lange krank mit Keuchhusten, spuckte mein Essen immer gleich wieder aus und war dadurch dünn wie ein „Biafra-Kind“, wie man damals sagte. Diese Bezeichnung war wegen der schrecklichen Bilder verhungernder Kinder in den damaligen Medien in aller Munde. In meinen ersten Lebensjahren war nicht klar, ob ich mit dieser schon zulange andauernden Schwächung würde überleben können.

      Meine Mutter fuhr ganz gerne einmal im Monat nach Kempten zum Einkaufen und mein Vater spielte derweil eine Runde Schach im Café Weitnauer. Sie zog mir dann immer zwei Paar Kniestrümpfe an, damit ich mit meinen Lederhosen in der Stadt nicht ganz so dünn und erbarmungswürdig aussah. „Nicht, dass die Leute meinen, unsere Kinder bekämen nicht ausreichend zu essen“, sagte sie immer wieder voller Sorge und ein bisschen Scham. Dabei bekam ich doch immer gutes und ausreichendes Essen. Meine Eltern taten alles, damit ihr zweiter Sohn die Krankheit überstehen und ich mich gut entwickeln konnte. Die beiden älteren Schwestern Ursel und Lisa mussten wahrscheinlich manchmal zurückstecken, wenn das „Büble“ wieder mal verwöhnt wurde. Mein sieben Jahre älterer Bruder Willi war im Alter von fünf Jahren tragisch verunglückt. Er war von einem Lastwagen an der naheliegenden Brauerei überfahren worden. Das war ein schrecklicher Schlag für die Eltern, von dem sie sich nie ganz erholten. Ich hatte vier Jahre zuvor noch eine dritte Schwester bekommen. Sie war jetzt zwei Jahre alt und tat der Familie gut, da sie immer wieder ein Lächeln in das oft so ernste Gesicht der Eltern zaubern konnte. Das gefiel uns älteren Geschwistern. Wir hatten Glück, dass die Mutter, eine gelernte Krankenschwester aus dem Ruhrgebiet, immer für uns da war und ein sehr liebevolles Zuhause bot. Sie war für uns immer der sichere Hafen. Am Rande des Ruhrgebiets war sie in Holzwickede, einem bescheidenen, aber liebevollen Haushalt aufgewachsen und hatte während ihrer Sommerferien auf dem Hof ihres Großvaters in Schoningen meinen Vater kennengelernt. Er war dort mit der Pionier-Einheit des „Hunderttausendmann-Heeres“ zu einem Manöver an der Weser. Meine Eltern heirateten ein paar Jahre später und meine Mutter zog auf den Berghof ihres Schwiegervaters.

      Meine Eltern vor der alten Bühler Kapelle

      Meine Mutter hatte es sehr schwer als „Zugereiste“ auf dem Bühl, wie der kleine Bergweiler hieß.

      Einige ihrer Schwägerinnen, die zu Kriegszeiten dort auch noch lebten, machten ihr das Leben nicht leicht. Sie hatte in Köln eine höhere Schulbildung und sogar einen Beruf erlernt, den sie als Beratungsschwester in der Region auch ausüben konnte. Der Neid war ihr gewiss. Aber sie biss sich in dieser für sie fremden Welt durch, bis unser Vater endlich am Ende des Krieges mit einer Granatsplitterverletzung am Kopf zurückkehrte.

      Mein Vater hatte viele Jahre früher angefangen, seinen Jugendtraum zu verwirklichen. Er kehrte dem elterlichen Bauernhof den Rücken und machte unter härtesten Bedingungen seine Lehrzeit als Maler. Zuvor war er in seiner Kindheit immer wieder als Hirtenbub an andere Bauern abgegeben worden, um einen Esser weniger am Tisch zu haben. An ein Studium war in den Zeiten zwischen den großen Weltkriegen für einen Bauernbuben nicht zu denken. Da half es auch nicht, dass sein Vater Bürgermeister war. Mein Vater träumte in seiner Kindheit davon, Kunstmaler zu werden. Nach seiner harten Malerlehre suchte er immer wieder nach Möglichkeiten, seine Malerei zu verbessern. Dafür -und vor allem auch, um Geld zu verdienen- ging er sogar ins Ausland, nämlich nach Rom; ein mutiger Schritt zu jener Zeit. Mit Malerei im Allgäu in der Nachkriegszeit Geld zu verdienen, war nahezu unmöglich. Die Leute hatten kein Geld für seine Aquarelle, kunstvolle Beschriftungen oder Bauernmöbel-Malerei. Mein Vater musste


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