Weltenleuchten. Martin Müller
gründete seine kleine Firma. Er bildete Lehrlinge aus, und war bald ein geachteter Prüfer bei den Meisterprüfungen der Augsburger Handwerkerinnung. Aber er konnte das Bildermalen immer nur in kleinen Nischen des Arbeitslebens unterbringen.
Mein Vater war trotz dieser beruflichen Einschränkung dankbar für sein Leben. Er hatte den Krieg knapp überlebt und konnte endlich ein „normales Familienleben“ leben. Das war für beide Eltern der höchste Wert. Er war wegen seiner Korrektheit und Zuverlässigkeit ein sehr respektierter Mann im Dorf. So manche Mitbürger kamen zu uns, den Müllers, ins Haus und holten sich Rat bei ihm. Seine politischen Ambitionen waren jedoch sehr begrenzt. Zu sehr hatte ihn die Zeit gekränkt, als sein Vater von den Nazis mit wüsten Verleumdungen aus dem Amt gemobbt wurde. Erst nach dem Krieg wurde mein Opa wieder als Bürgermeister eingesetzt. Er war auch für uns Kinder eine Autoritätsperson, aber eine gutherzige.
Meine fast zehn Jahre ältere Schwester Ursula hatte das Sagen unter den Kindern, soweit Lisa und ich das zuließen.
Lisa war nur zwei Jahre älter als ich und somit im Alltag oft Weggefährtin, wobei sie immer mal plötzlich anderweitig beschäftigt war, wenn es darum ging, auf unsere kleine Schwester Marianne aufzupassen.
Das übernahm dann ich, der Gutmütigere. Das Aufpassen war nicht immer so einfach, denn Marianne hatte sehr klare Vorstellungen von den Dingen, die sie wollte und nicht wollte und es gab keine Medizin, um sie davon abzubringen.
Es war Geduld gefragt und die besaß ich. Ich war stolz, dass ich das gut konnte. Und Lisa war froh.
Meine Kinderzeit bestand hauptsächlich aus Abenteuern im Freien: Hüttenbauen und -verteidigen, Flöße bauen und bei hohem Wasserstand den Dorfbach bis zum Wehr hinabfahren. Skifahren war besonders wichtig. Das Skifahren war ja das Tolle am oft sechs bis sieben Monate andauernden Winter; erst ohne Lift mit selbst festgetretener Bahn, dann auf der Piste des Dorflifts, den ich mit einigen anderen Buben nutzen durfte, wenn wir vorher immer wieder stundenweise den zahlenden Skifahrern die Schleppbügel gereicht hatten. Skispringen auf selbst gebauten „Böcken“, wie die Schanzentische damals genannt wurden, war auch ein häufiger Zeitvertreib vom Hauber Willi, Kammerlander Gotthard und mir. Entweder hatten wir die am Lift oder oberhalb des Bauernhofs vom Hauber Willi gebaut. Die dorfeigene Sprungschanze war noch eine Nummer zu groß für uns. Über diese sprangen ein paar von uns Buben erst ein paar Jahre später.
Meine Sprungversuche bei der Nordischen Kombination in Weitnau auf der alten Dorf-Schanze
Zunehmend gab es auch längere Ski- und Bergtouren mit unserem Vater, was immer ein besonderes Ereignis war. Während des Wanderns wurde immer viel gesungen. Wir hatten ein großes Repertoire an Volksliedern. Es war unsere Mutter, die uns die Lieder mit allen Strophen beigebracht hatte. Viele Autofahrten und Wanderungen wurden verkürzt mit Dauersingen.
Lisa und ich auf Skitour mit unserem Vater
Die schönste Zeit aber war für uns Kinder die Adventszeit. Dann wurde unter der Leitung meiner Mutter beinahe täglich bei Kerzenschein gesungen. Ursula, als älteste Tochter, war ihr dabei eine wichtige Stütze. Der Höhepunkt war Weihnachten. Geschenke gab es nicht viele, aber einen schönen Christbaum mit Krippe und viel selbstgemachter Musik. Unser Vater war kein großer Sänger, aber er spielte etwas Akkordeon. Meine Mutter und wir Kinder hatten alle Block- oder Altflöte gelernt. Beim Singen sang unsere Mutter selbst immer voller Inbrunst und das ließ uns mit unseren hellen Kinderstimmen andächtig mitsingen.
Weihnachtssingen mit Mutter und Schwestern
Es gab aber auch das tägliche Malen daheim auf der Eckbank am Esstisch und immer wieder die Besuche von Orgelkonzerten. Ich war schon als Kind besonders berührt von Johann Sebastian Bachs Werken. Diese Musik konnte die DNA meiner Seele entschlüsseln. Das blieb mir mein Leben lang erhalten. Musik war eine zweite Form eines Miteinanders in unserer Familie.
Wir hatten noch keinen Fernseher. Beim Schad Albert durfte ich aber ab und zu mal schwarzweißfernsehen. Meistens schauten wir uns Fury oder Lassie an. Wann immer wir uns unbeobachtet fühlten, war es für uns das Größte, einen Wild-West Film zu sehen. Wir spielten dann tagelang die Szenen nach.
Meine Mutter animierte meine Freunde und mich wie auch meine Geschwister oft, Kasperletheater zu spielen und uns dabei eigene Geschichten auszudenken. Am schönsten war es aber, wenn sie selbst ihr Temperament mit den Figuren voll auslebte. Sie hatte ein großes Talent darin, uns Kinder in eine fesselnde Märchenwelt zu entführen.
Kasperle-Theater am Fasching mit Marianne, Lisa und Nachbarskindern
Sonntags wurde mein „Draußen-Leben“ immer durch den Pflicht-Kirchgang gestört. Das war unumgänglich, denn vor allem meine Mutter war sehr gläubig und „erzkatholisch“, was ein bisschen nervte. Ich sollte unbedingt Ministrant werden, allerdings war meine Karriere als Ministrant sehr kurz. Nach der ersten Messe im Ministranten-Gewand, meinem Debut, schickte mich der Pfarrer wieder heim, weil ich mein lateinisches Sprüchlein immer noch nicht auswendig gelernt hatte. Ich war froh darüber. Ich hatte es zwar meiner Mutter zu Gefallen angefangen, aber wenn der Pfarrer mich nicht wollte, war es ja nicht meine Schuld. Mir sollte es recht sein.
Wann immer möglich, ging ich zur Frühmesse, damit ich während des „Hochamts“ um neun Uhr, wenn alle anderen in der Kirche waren, mit anderen Buben Forellen von Hand aus dem Bach fangen konnte. Das war zwar nicht leicht und schon gar nicht erlaubt, aber meine Mutter, die im Gegensatz zu meinem Vater Fisch liebte, nahm die Friedensgabe immer gerne an.
Mit meinem Vater auf dem Grünten
Mit fast sieben Jahren durfte ich für drei Wochen mit unserem Vater auf den Grünten. Dieser Allgäuer Berg war geeignet für Familien-Wandertouren und entsprechend beliebt. Dort oben stand seit Jahrzehnten ein Berggasthaus, das dem Brauereibesitzer aus dem Dorf gehörte. Mein Vater hatte den Auftrag, das Gebäude mit seinen Malerarbeiten wieder ansehnlich zu machen. Diese drei Wochen, in denen ich zweimal täglich sieben hundert Höhenmeter hinunter- und wieder hochrannte, um für den Wirt Besorgungen zu machen, machten mir Spaß und ich merkte, dass ich viel zäher und schneller war als alle anderen. Außerdem spürte ich die Bewunderung der keuchenden Bergwanderer, an denen ich, der kleine, dürre Bub, vorbeirannte. Das gefiel mir. Mindestens einmal am Tag lief ich ganz hinauf zum Gipfel, stellte mich neben das Denkmal und sah sehnsüchtig den Segelfliegern zu, die sich bei gutem Wetter von der Seilwinde hochziehen ließen, um dann nach tragenden Thermikblasen zu suchen. Wenn sie es bis zum Grüntenhang geschafft hatten, trug der Hangwind sie bei nördlicher oder westlicher Windanströmung weit über die Gipfelhöhe hinaus; ganz ohne Motor. Ich war überwältigt von der Erhabenheit der Fliegerei. Mein Traum vom Fliegen mit der Energie der Winde war geboren.
Manchmal stand ich aber nur oben und blickte auf die Wolkendecke hinab. Es gab nur den Himmel, den Berg und diese wunderbaren weißen Wolken, wie Wattebäusche, da unten. Die Versuchung, dort hineinzuspringen, war riesengroß. Ich war immer wieder überwältigt von diesem Reiz, sprang aber dann doch nicht.
Mein Vater war ein bisschen stolz auf seinen Sohn, der hier oben so viel Begeisterung entwickeln konnte. Auch den anderen Menschen fielen meine strahlenden Augen auf.
Getrübt wurden diese Erlebnisse durch einen großen Schrecken, als einmal zwischen dem Sendeturm und dem Denkmal am Gipfel direkt hinter mir eine ungeübte Bergwanderin aus dem Norden mit ihren glatten Schuhen ausrutschte, mit einem Aufschrei den Hang hinabglitt, sich mehrfach überschlug und schließlich über einen Felsvorsprung stürzte und aus meinem Blick verschwand. Die Bergwacht konnte sie nur noch tot bergen.
Eine andere Touristin, die abends noch am Hüttenleben teilgenommen hatte, entschied sich eine Woche