Weltenleuchten. Martin Müller
lockerte oder anzog. Natürlich schaute ich mir auch einiges bei anderen Seglern ab. Nach Wochen und Monaten des Experimentierens auf dem Wasser bei Flaute, Sturm und selbst beim Kentern, hatte ich das Boot voll im Griff. Das fiel auch anderen Seglern auf und so durfte ich bald bei Regatten das Werksboot des Atlanta Bootsbaus steuern. Sogar bei der großen Interbootregatta segelte ich zweimal erfolgreich mit. Ich verbrachte einen Großteil meiner Freizeit, öfter auch mit Freunden, auf dem See und spielte mit dem Wind.
Irgendwann blieb ich auf dem Gymnasium sitzen und musste die Klasse wiederholen. Die vorsichtige Anfrage meines Vaters, ob ich nicht vielleicht doch eine Malerlehre machen und später den Betrieb übernehmen wolle, lehnte ich höflich, aber erschreckt ab. Ich wusste, ich wollte etwas ganz anderes, aber ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Da war es aus meiner Sicht naheliegend, erstmal die Schule weiterzumachen.
Meine erste große Kinderliebe in dieser Zeit, sie hieß Rosi, scheiterte an unserer Schüchternheit und blieb, wie so viele Kinderlieben, unerfüllt und damit ein geheimer Schatz in meinem Innern.
Sehnsucht nach dem Anderen
In den Jahren der frühen Jugend verbrachte ich immer wieder Zeit bei der Familie meines ein paar Jahre älteren Freundes Wolfgang. Mit ihm war ich oft auf Skiern unterwegs oder wir spielten auch ab und zu Tischtennis. Wolfgang arbeitete auf dem Hof seiner Eltern. Er arbeitete immer hart und mit dem Anspruch, alles mit Überzeugung, hoher Qualität und so wenig Maschineneinsatz wie möglich zu erledigen. Im Sommer half ich öfter bei der Heuernte mit, was ich auch gerne tat. Wolfgang lebte ein völlig anderes Leben als meines. Alles war klar strukturiert und die Handlungen festgelegt. Für den gesamten Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Ich saß häufig um halb vier nachmittags mit am Kaffeetisch und war dort über lange Zeit wie ein zusätzlicher Sohn der Familie. Auch Wolfgangs Eltern konnten mich gut leiden.
Auf Wolfgangs Heuladewagen
Ich war in den ersten Klassen auf dem Gymnasium immer etwas schüchtern, schlüpfte aber langsam in die Rolle eines Wortführers und wurde irgendwann sogar zum Schulsprecher gewählt. Die „68er-Generation“ hatte den Muff der Nachkriegszeit aus der deutschen Gesellschaft vertrieben und für eine kulturelle Revolution gesorgt. Die Anführer der „68er“ waren um die zehn Jahre älter als wir und hatten uns vorgemacht, gegen „das System“ zu sein. Also waren meine Mitschüler und ich auch dagegen. Auf die Frage „wogegen?“ hatten wir keine differenzierte Antwort. Wir waren gegen alles und hatten keinen großen Plan.
Einige Bürger der Kleinstadt waren wegen der nun schon seit ein paar Jahren andauernden Unruhe auf dem Gymnasium beunruhigt.
Und die Welt war weiter in Bewegung:
1970.
Politische Krisen, Bürgerkriege und Naturkatastrophen bewegen die Welt. Der Vietnamkrieg dehnt sich auf Laos und Kambodscha aus, während Studenten in den USA mehr innere und äußere Sicherheit einfordern; es gibt dabei zahlreiche Tote.
Die Umweltverschmutzung nimmt weltweit in erschreckendem Maße zu. Als Verursacher und nicht „Löser“ des Problems wird nun der technische Fortschritt gesehen.
Die Konflikte in Nordirland dauern an.
Der französische Präsident De Gaulle stirbt; ebenfalls der ägyptische Staatspräsident Nasser sowie Portugals Ministerpräsident Salazar, der einen archaischen Staat hinterlässt.
British-Guyana wird unabhängig und nennt sich jetzt Guayana.
In Polen steigen unter anderem die Preise für Grundnahrungsmittel um bis zu 30 %. Die Folge sind Unruhen mit Toten.
Die Regierung in Peking feiert pompös ihren 21. Partei-Geburtstag.
Die Ostpolitik Willi Brandts wird in Deutschland kontrovers diskutiert.
Auf der Grundlage des „Weißbuchs“ beschäftigt sich der Bundestag mit der Zukunft der Bundeswehr.
Die Vereinten Nationen feiern ihren 25. Geburtstag. Durch endlose Debatten zwischen den Vertretern der Mitgliedsstaaten droht die UNO, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Nichts ist so beständig wie der Wandel.
Es passierte viel auf der Welt. Zuhause wurden die politischen Ereignisse zur Kenntnis genommen, aber nicht besprochen. Nach dem Krieg gab es für die Eltern wenig Verlangen nach schlechten Nachrichten oder anstrengenden Themen. Unter den Schülern wurde über Sport, das „böse Establishment“ und die „ruchlosen Multis“, wie damals die internationalen Großkonzerne genannt wurden, gesprochen. Es handelte sich meist um Floskeln, die wir von manchen der „68ern“ aufgeschnappt hatten.
Ich wusste wenig über Hintergründe, spürte aber, dass die heile Welt, in der ich zuhause lebte, nicht die ganze Wahrheit sein konnte. Die Musikszene dieser Zeit spielte eine wichtige Rolle in unseren Schülergesprächen. „In the summertime“ von Mungo Jerry war im Radio dauerpräsent, aber auch „El Condor Pasa“ von Simon and Garfunkel und Reinhard Mey´s Ballade vom Pfeiffer.
Ein Jahr später kam es, wie es kommen musste; der Schuldirektor musste durchgreifen. Ich flog von der Schule. Schlechte Leistungen und Aufmüpfigkeit waren die Ursache. Jetzt war klar: Ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung war ich in meinem Leben als Jugendlicher erstmal völlig auf Grund gelaufen. Wochenlang war ich niedergeschlagen und verließ das Haus nur selten. Meine Eltern waren tief beunruhigt und ratlos.
Lange überlegte ich, wie ich nun weitermachen sollte. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und trampte nach Kempten.
Dort wollte ich versuchen, auf dem Allgäu-Gymnasium weiterzumachen. Ich bekam einen Termin beim Schuldirektor, der mich aber kurz und bündig und sehr bayrisch „abblitzen“ ließ. Der Direktor war vorgewarnt worden. Meine Vorgehensweise war offensichtlich sehr vorhersehbar. Ich war das Letzte, was eine gute, bayrische Schule gebrauchen konnte. Zu tief saß die „Revolution“ der 68er-Generation den konservativen bayrischen Lehrern noch im Nacken. Da half auch meine Zusicherung nicht, störende Aktivitäten an der Schule künftig unterlassen zu wollen. Jetzt war ich aus dem Schulsystem gefallen. Ich war nun siebzehn Jahre alt und hatte noch keinen Führerschein. Meine Mobilität hing von Mitfahrgelegenheiten bei Freunden oder vom Trampen ab. Geld war immer Mangelware. So war meine Bewegungsfreiheit ärgerlicherweise sehr eingeschränkt.
Mein Vater hatte das Schul-Dilemma seines Sohnes mit einem Lehrer der dörflichen Schule besprochen. Der konnte über einen ihm bekannten Schuldirektor des Gymnasiums einer Ostallgäuer Stadt erwirken, dass ich noch eine Chance bekommen sollte.
Ich musste am ersten Schultag beim dortigen Schuldirektor als „Büßer“ erscheinen und nahm die absehbare Moralpredigt entgegen.
Sinnigerweise wohnte ich ab jetzt im Schülerwohnheim Sankt Martin. Es war eigentlich alles ganz passabel dort, außer dass meine Familie die hohen Wohnheimkosten tragen musste und ein Wechsel von Baden-Württemberg nach Bayern in der Regel eine Verschlechterung von mindestens 1,5 im Notenbild bedeutete. Bei meinem schlechten Notenstand am Isnyer Gymnasium bedeutete das eine echte schulische Herausforderung oder, ehrlicher gesagt, eine „mission impossible“.
Ich sah meine ersten Eishockey Bundesligaspiele und verstand mich gut mit der Tochter eines großen süddeutschen Bauunternehmers. Sie hatte sehr viel Verständnis für meine ungemütliche Lage und war recht lustig. Ihr Humor tat mir gut. Evi und ich verbrachten viel Zeit miteinander. Wir spielten viele Partien Schach, von denen ich die meisten verlor. Aber ich wurde immer besser. Mir wurde zunehmend klar, dass das mit dem Schulwechsel nach Bayern nicht gutgehen würde und so trampte ich ein paar Monate später –an einem Winterabend– in die kleine Stadt nach Württemberg. Meine sozialen Verbindungen funktionierten noch; besonders mit den Mädels. Es gab keine Mobiltelefone und kein Internet. Die „Botschaften“ wurden entweder über Dritte weitergetragen oder per Haustelefon. Auch Briefeschreiben war noch üblich. Auf jeden Fall funk-tionierte es irgendwie und ich konnte an diesem Abend bei