Weltenleuchten. Martin Müller

Weltenleuchten - Martin Müller


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      Schachpartie mit meinem Vater

      Die Klassen drei und vier waren für mich sehr bequem. Der Lehrer verbrachte seine Unterrichtszeit oft draußen im Liegestuhl, rauchend oder Zeitung lesend. Ich lernte sofort, diese Zeiträume zum Herumalbern oder Träumen zu nutzen, aber vor allem, wie man sich mit geringstem Aufwand durchmogeln konnte. Ich musste noch von Herbst bis Ostern in der Volksschule bleiben, weil durch den bevorstehenden Schulwechsel ins Gymnasium nach Isny ein sogenanntes Schaltjahr galt.

      Ich kannte das kleine Städtchen Isny schon ein bisschen, weil ich dort mit Lisa zusammen schon seit zwei Jahren Flötenunterricht bei Schwester Agnella nahm und seit kurzem bei einem anderen Musiklehrer auch Akkordeon lernte. Es war immer eine gemütliche Zugfahrt dort hin. Anfangs noch mit der Diesellok und den alten Waggons mit den hölzernen Bänken und dann mit dem Schienenbus. Die große Dampflock mit dem riesigen Schneepflug kam nur, wenn es wirklich meterhohe Schneeverwehungen gab. Dann aber warf dieses große Ungetüm weite Schneefontänen zu beiden Seiten. Es war ein Spektakel, das mir in Erinnerung blieb. Im Winter waren die Regeln klar: wenn man sich durch den oft hüfthohen Schnee bis zum Bahnhof durchgearbeitet hatte, musste man eine halbe Stunde warten und kam der Zug nicht, durfte man wieder nach Hause. Leider passierte das nicht so oft, und so hielt man die auftauenden, nassen Kleidungsstücke nach dem Einsteigen vor die Warmluftschächte der Zugwagen zum Trocknen.

      Auf der gemächlichen Fahrt spielte ich meistens mit Wolfi, Robert, Ede und Charlie ein paar Runden Auto-, Schiffs- oder Flugzeugquartett.

      Und die Welt war weiter in Bewegung:

      1965.

       Die USA eröffnen den Bombenkrieg in Vietnam, setzen dabei zum ersten Mal Napalm ein und bereiten ihren ersten bemannten Flug zum Mond vor.

       Der russische Kosmonaut Leonow schwebt das erste Mal frei im Weltraum.

       In Amerika beginnen große Rassenunruhen, worauf Präsident Johnson ein Programm zur Bekämpfung von Armuts- und Massenarbeitslosigkeit initiiert.

       In Rom geht das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende, in dem die katholische Kirche ihre Erneuerung in sechzehn Dekreten versucht.

       In Deutschland bleibt Erhard Bundeskanzler.

       In Berlin wird der Mauerbau weiter vorangetrieben.

       Der Konflikt zwischen Indien und Pakistan weitet sich zum Krieg mit bis dahin 5000 Gefallenen aus.

       Die jungen afrikanischen Republiken -wie etwa Gambia und Kongo- entstehen.

       Rhodesien sagt sich von Großbritannien los.

       China umwirbt die jungen Staaten Afrikas intensiv, wenn auch zuerst mit wenig Erfolg.

      Nichts ist so beständig wie der Wandel.

      Das Gymnasium war anders als das, was ich bisher kannte. Ich war dort fremd. Nicht verwunderlich, denn die Schüler aus Weitnau und Maierhöfen kamen für die Kleinstädter „ausm Boirische“, was zu dieser Zeit etwa gleichbedeutend mit „Hinterwäldler“ war. Nur Mitschüler, die auch von „weit hinterm Wald“ kamen, erschienen mir etwas zugänglicher, wenn sie auch wie ich erst etwas eingeschüchtert waren. Ich fand das seltsam, denn ich fühlte mich nicht geringer als die Schüler der Kleinstadt, war aber irritiert.

      Die Schulzeit am Gymnasium veränderte mein bisheriges Leben. Ich konnte nicht mehr einfach so mithalten, ohne aktiv zu lernen. Das war ich nicht gewohnt und ich geriet zunehmend unter schulischen Druck.

      Meine Freunde aus Weitnau sah ich kaum noch. In dieser Zeit verschlang ich die Abenteuerbücher von Jack London und plante in meinen Tagträumen meine eigenen künftigen Expeditionen auf der „Sehnsuchtslandkarte“ an meiner Zimmerwand.

      Ich verbrachte auch viel Zeit träumend auf dem Schulweg. Das Warten auf den Schienenbus oder als Anhalter an der Straße stehend war anstrengend und es nervte mich zunehmend. Wieviel Lebenszeit ich in meiner Jugendzeit so verbrachte! In meinem Kopf spielten sich dabei die Lieder der Rolling Stones mit “I can get no satisfaction“, „the last time“ oder „Downtown“ von Petula Clarc ab.

      Neue Freunde gab es wie zum Beispiel den Kimmerle Peter, zu dessen Familie ich öfter zum Mittagessen eingeladen wurde. Für mich war es eine neue Erfahrung, Zeit in einer Familie mit vier Söhnen zu verbringen. Es war eine „einfache Arbeiterfamilie“ mit einer Mutter, die dafür sorgte, dass aus der Bande Buben auch „was werden“ würde und einem Vater, der zur Arbeit ging, das Geld verdiente und danach seine Ruhe brauchte. Die Mutter war eine Frau mit großem Herzen, auch für mich, dem dürren Buben „ausm Boirische“.

      Ich war gerne in dieser Familie. Ein anderer Freund war Gerald, der mich und auch mein Pausenbrot mochte. Bei Gerald zuhause gab es keine Leberwurstbrote. Wenn Gerald die Wurst aus meinem Schulranzen roch und den Duft demonstrativ tief einatmete, viel mir das gleich auf und ich gab ihm jedes Mal die Hälfte ab. Zuhause war meine Mutter immer sehr erfreut über das leere, zurückgebrachte Pergamentpapier, worin das Pausenbrot immer eingewickelt war.

      Mit Gerald und Peter unterwegs

      Gerald kam aus einer Familie, die nach dem Krieg eine private Akademie für Naturwissenschaften „aus dem Nichts“ aufgebaut hatte. Der Vater als Professor und die Mutter als Haus- und Geschäftsfrau. Die wachsende Akademie war ihr Leben. Geralds ältere Schwestern und Gerald selbst wurden nur einem Ziel untergeordnet: sie sollten später einmal auf eine Familienlegende von Naturwissenschaftlern zurückschauen und vielleicht sogar einmal einen Hochschulstatus für die private Institution erreichen können. Ich galt in dieser Familie zwar immer als ein Störenfried, der ihrem großen Ziel nichts beizutragen hatte und nur den Hoffnungsträger Gerald von der Schule ablenkte, aber Gerald setzte es durch, dass ich hin und wieder – vor dem Nachmittagssport – mit ihm in die Mensa zum Mittagstisch durfte. Wir verstanden uns gut, vor allem, wenn es um Freizeitgestaltung wie Skifahren und Segeln ging.

      Wir verbrachten immer mehr Freizeit zusammen und saßen auch in der Schule nebeneinander.

      im Tiefschnee am Nordhang des Hauchenbergs.

      Besonders in Sprachen, ob Deutsch, Englisch oder Französisch, konnte ich Gerald bei den Klassenarbeiten unterstützen. Die Sprachen fielen mir zu dieser Zeit noch leicht, was sich allmählich änderte. Auch hier war klar, dass ich ohne aktives Lernen immer mehr in eine Sackgasse geraten würde. Irgendwann wurde ich über die Schul-Lautsprecher zum ersten Mal ins Sekretariat gerufen. Der Schuldirektor wollte mich sprechen, um mir mitzuteilen, dass man im Gymnasium in meinem Alter keine Lederhosen mehr trage. Ich sei doch kein Kind mehr. Das war mir wahnsinnig unangenehm. Ich hatte doch keine anderen Hosen und erzählte das meiner Mutter. Sie kaufte mir eine Cordhose.

      Im Sport war ich immer noch gut. Trotz meiner schmächtigen Erscheinung konnte ich mich in der Leichtathletik gut behaupten und beim Faustballspiel immer wieder mit meinen harten Schlägen überraschen. Ich wurde im Faustballteam rasch bei den Erwachsenen als „Schläger“ eingesetzt, wie man den Angreifer nannte. Auch mein Vater spielte anfangs noch mit und konnte sehen, wie ich Punkt um Punkt machte. Es tat mir gut, auch eine Insel der Bestätigung zu haben, da die Schule zunehmend zur Katastrophe für mich wurde.

      Mit dreizehn Jahren hatte ich beschädigte Kunststoffschalen für ein Segelboot gekauft und sie im Garten vor dem Haus repariert und zusammengebaut. Auch die restliche gebrauchte und reparaturbedürftige Ausrüstung erstand ich beim Atlanta-Bootsbau am Dorfrand, bis ich überzeugt war, dass mein Boot nun segelfertig sei.

      Am Niedersonthofener See und mit Lisa bei der Bootsreparatur auf unserer Terrasse

      Mein Vater, der mir auch das Geld dafür gegeben hatte, fuhr die Jolle auf dem Autodach zu Verwandten auf die „Insel“


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