Weltenleuchten. Martin Müller
im zweiten Frühling und ihre Freude über ihre Fortschritte beim Studieren. Wir verbrachten einen unterhaltsamen Abend miteinander. Aber so richtig entspannt war die Nacht nicht vor dem Tag der Tage, nämlich dem nächsten Tag. Christine war schon früh morgens in Richtung natur-wissenschaftlicher Akademie aus dem Haus, als ich ihre Studentenbude verließ. Ich ging meinen „Gang nach Canossa“, um das Unmögliche zu versuchen. Ich verspürte schon etwas Angst auf dem alten Weg zu meinem alten Gymnasium, aus dem ich rausgeflogen war, und ging direkt ins Sekretariat. Bisher war ich dort immer nur erschienen, wenn es über den Schullautsprecher geheißen hatte: „Martin Müller, bitte sofort ins Sekretariat!“ und das immer drei Mal hintereinander im deutlichsten Kommandoton, den die Sekretärin zu bieten hatte. Doch diesmal war das nicht so. Keiner hatte mich gerufen. Ich grüßte freundlich, setzte mich auf einen Wartestuhl und merkte, wie mich die Sekretärin beobachtete. Als sich länger nichts tat, stand ich auf und bat sie höflichst um einen Termin mit dem Direktor. Als die erwartete Antwort – der Direktor habe heute keine Zeit – zurückkam, sagte ich freundlich, aber klar, dass ich so lange bleiben würde, bis der Direktor Zeit für mich hätte. 30 Minuten später durfte ich zu ihm. Der Direktor musterte mich und fragte, erstaunlich freundlich, nach meinem Anliegen. Ich erzählte ihm, dass ich an der Schule in Kaufbeuren gute Fortschritte gemacht hätte, aber nun nicht länger meinen Eltern auf der Tasche liegen wolle, und dass ich deshalb gerne die 10. Klasse an „seiner“ Schule beenden wolle. Meine Fortschritte im Gymnasium hatte mir das Schülerwohnheim großzügigerweise schriftlich bestätigt und das Kosten-argument mit Bezug auf das Wohnheim war ohnehin plausibel. Für mich etwas überraschend kostete der Direktor meinen Gang in die Demut nicht länger aus als nötig. Ich musste ihm „in die Hand versprechen“, dass ich keine Unruhe mehr stiften und meine schulische Leistung nach sechs Monaten zum Abschluss der zehnten Klasse führen würde. Ein weiterer Verbleib in höheren Klassen an seiner Schule sei aber ausgeschlossen. Der Direktor sah mir tief in die Augen und ich gab ihm mein Wort. Das hielt ich auch, und hatte Monate später wenigstens die Mittlere Reife gesichert. Ich verspürte zum ersten Mal Respekt gegenüber meinem ehemaligen und neuen Schulrektor. Soviel Größe hatte ich nicht erwartet. Schließlich war ich ja zurecht von der Schule geflogen. Ich war sehr froh, wenigstens die zehnte Klasse bestanden zu haben.
Die Sommerferien kamen nun sehr gelegen. In diesem Sommer trampte ich zu meiner Freundin Angelika aus Stuttgart, die mit ihren Eltern in den Dolomiten Urlaub machte. Wir hatten uns ein Jahr zuvor beim Skifahren kennengelernt und fühlten uns sehr voneinander angezogen.
Wir waren beide neugierig auf alles, was diese Anziehungskraft bedeutete und genossen sie, wann immer sich Gelegenheit dazu bot.
Die Anziehungskraft muss groß gewesen sein, denn sie drängte mich zu meiner ersten Tour per Anhalter ins italienische Ausland. Angelikas Eltern fanden das nur begrenzt lustig. Aber ihre einzige Tochter setzte sich durch und ich bekam eine „Feigenblattkammer“ im Hotel. Wir sollten über die kommenden Jahre immer mal wieder schöne, wenn auch zu kurze Zeiten miteinander verbringen. Unsere gemeinsame Zeit endete, als Angelika ein paar Jahre später -ich musste damals Anfang zwanzig gewesen sein- die Grundsatzfrage stellte. Sie hatte das Gefühl, sich zwischen zwei Männern entscheiden zu müssen; einem in ihrer Nähe, der gerade dabei war, sich selbstständig zu machen und einen klaren Lebensentwurf hatte und dem anderen, der als Abenteurer unterwegs war und noch nicht wirklich wusste, was er wollte. Sie wollte ihre Entscheidung von einer gemeinsamen längeren Urlaubsreise mit mir abhängig machen. Würde sich das gut anfühlen, fiele ihre Entscheidung auf mich.
Das war mir zu endgültig und zu viel Verantwortung zu diesem Zeitpunkt. So weit war ich noch nicht. Ich hatte das Gefühl, dass sie für sich unbedingt eine Entscheidung suchte. Das war zu viel Druck für mich und so signalisierte ich ihr, dass unter diesen Umständen wohl nur das klarere Lebensmodell für sie in Frage käme. Ich konnte und wollte am Ende eines gemeinsamen Urlaubs keine Zukunfts-Garantien geben. Es fiel uns beiden schwer, uns nun endgültig zu trennen. Ich hatte damals das Gefühl, keine Alternative gehabt zu haben, aber es tat weh.
Irgendwann traf ich Peter aus Isny wieder, bei dessen Familie ich früher ab und zu Mittagessen durfte. Er war auch „aus der Schule gefallen“; ebenso wie Wolfi vom Sonneck aus Weitnau, mit dem ich in unserer Kindheit häufig ausgeritten und mit der Pferdekutsche unterwegs gewesen war. Wir hatten uns in der Kinderzeit in Weitnau wie echte Indianer gefühlt.
Einer von ihnen hatte gehört, dass es einen neuen Schultyp in Bayern gäbe –genannt Fachoberschule– und wir uns doch dort bewerben könnten.
Eine Fachhochschulreife sei besser als keine Hochschulreife dachten wir, bewarben uns und wurden angenommen. Diese Hürde war geschafft. Wir wussten, wie es ab Herbst 1972 weitergehen würde.
Die Jagd auf das Neue und nach der unbegrenzten Freiheit
Durch Europa
nun wollte ich mich mit Peter erstmal um Allgemeinbildung kümmern. Dazu brauchten wir Geld, das wir uns in einem Ferienjob verdienen wollten. Ich arbeitete als Beifahrer im Brauereilastwagen und musste zum Beispiel zur Belieferung von Bierdepots in Oberstdorf, Kressbronn am Bodensee und in Ludwigsburg zusammen mit einem der beiden Sepps unzählige Bierkästen und -Fässer laden und abladen. Aber harte Arbeit machte mir nicht viel aus.
Peter und ich hatten von einem europäischen Projekt „Interrail“ gehört. Das war neu und zielte darauf ab, die Jugend Europas durch Bahnreisen in die europäischen Städte zusammenzubringen. Das Monatsticket war sehr billig und in kürzester Zeit sehr beliebt. Das Rucksackreisen ging in eine neue Dimension. Man übernachtete in der Bahn, auf Bahnhöfen oder in Stadtparks. Schon ein Jahr später reagierten die Behörden und das Übernachten in Bahnhöfen und öffentlichen Parks wurde in vielen Ländern verboten. Das Interrailreisen wurde dadurch teurer.
Peter und ich fuhren innerhalb von vier Wochen zum ersten Mal in unseren Leben über die Schweiz nach Frankreich, Spanien, Marokko, Portugal, wieder Frankreich, Belgien,
Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Wir trafen viele Gleichaltrige. Es war für uns „junge Losgelassene“ eine rauschende Fahrt in die große Freiheit, wenn auch Schlafmangel zum Dauerzustand wurde. Wir trafen in Spanien Maria, eine portugiesische Medizinstudentin. Sie war ein auffallend hübsches Mädel mit „Miss-Titel“. Maria war zusammen mit ihrem Freund am Strand und strahlte mich an; ich strahlte zurück. Maria sollte mich ein Jahr später in Deutschland besuchen, um anschließend eine ausgedehnte Reise nach Skandinavien mit mir zu machen. Es entstand für die Dauer von zwei Jahren eine leichte, unbeschwerte „on and off- Romanze“.
Peter hatte Freunde in Amsterdam. Die besuchten wir und erlebten das „verruchte“ Harlem im Amsterdam der 1970er Jahre. Die Faszination endete jäh an einem späten Abend, als mir vor einer Disco die Geldbörse aus meiner Hosentasche gezogen wurde. Ich bemerkte das im letzten Moment und verfolgte den flüchtenden Dieb. Da ich ja schnell laufen konnte, stellte ich ihn nach einigen hundert Metern. Der junge Mann griff mich in seiner Verzweiflung plötzlich an.
Ich war außer mir vor Wut und schlug auf den Jungen ein, bis der regungslos auf dem Parkplatz liegen blieb. Dann nahm ich mir meine Geldbörse zurück und verschwand. Ich war sehr erschrocken über mich.
Diese unbändige Wut kannte ich bisher nicht von mir. In einem nahen Gebüsch übergab ich mich. Jetzt merkte ich, dass die Geldbörse leer war. In den Zelten der Hippies in Harlem bekam ich keinen Platz zum Übernachten und so lief ich die ganze Nacht viele Kilometer zu Fuß durch die Stadt, fuhr ein Stück per Anhalter nach Den Haag, bis ich das Haus der holländischen Freunde wiederfand. Dort hatte ich meine Papiere aus Sicherheitsgründen hinterlegt.
Wir legten einen Zwischenstopp bei meinem Opa, dem Onkel und den Tanten ein. Bei ihnen lieh ich mir etwas Geld für die weitere Reise. Die Weiterreise in Richtung Skandinavien war im Vergleich zur Reise durch den europäischen Süden erholsam. Man wurde an den Schlafplätzen in Ruhe gelassen und die Züge waren komfortabel. Ein weiterer Vorzug von Interrail war auch, dass Linienschiffsfahrten stark vergünstigt waren und so fuhren wir mit dem legendären Postschiff im nördlichen Norwegen von Narvik aus durch die Lofoten. Bequemer als auf den Sesseln in der Lounge war es, in den Rettungsbooten auf dem Oberdeck ausgestreckt zu liegen und zu schlafen. Außerdem wurde man auf diese Weise nicht so