Weltenleuchten. Martin Müller
Licht, das ich in solcher Schönheit noch nie gesehen hatte. In meinem Kopf spielten wie so oft Orgelwerke von J. S. Bach. Zwischendurch ging ich zum Aufwärmen hinab in die Lounge und setzte mich auf einen der vielen Plastiksessel. Dabei nahm ich plötzlich die aufgeregte Stimme eines britischen Fernsehmoderators wahr.
Es war ja 1972 und gerade liefen die Olympischen Spiele in München. Auf dem Bildschirm sah man Hubschrauber und rennende Menschen. Die Fernsehbilder der BBC schockierten mich. Israelische Sportler waren von arabischen Kämpfern angegriffen und getötet worden. Ich war inmitten meiner großen, schönen Freiheit völlig irritiert und fragte mich, woher dieser Hass kam, der Menschen unschuldige Sportler töten ließ.
Diese Fernsehbilder beschäftigten mich sehr in meiner heilen Entdecker-Welt. Sie ließen mich während der gesamten Reise nicht mehr los.
Neben meiner heilen gab es offenbar noch eine ganz andere, hässliche Welt.
Jahre später verstand ich Motiv und Hergang dieser Tat viel besser. Ich hatte sogar Gelegenheit, den damaligen Hubschrauberpiloten der GSG-9 zu sprechen, dessen Maschine bei dem Attentat abstürzte. Er war seit dieser Zeit nicht mehr GSG-9 tauglich und wurde „nur“ noch bei bestimmten Flügen als Sicherheitsbeamter in Lufthansamaschinen eingesetzt.
Ein paar Tage später in Nordschweden war ich wieder begeistert von der traumhaften Landschaft.
Das schwedische Lappland war dünn besiedelt; die Menschen freundlich.
Am Bahnhof in Kiruna, erzählten mir deutsche und französische Rucksackreisende, wie begeistert sie seien von diesem Land. Die Leute seien ehrlich und so gutgläubig und überall stünden Fahrräder herum, die man einfach nutzen und irgendwo wieder abstellen konnte. Wieder war ich irritiert.
Die Menge andersdenkender Menschen war viel größer als ich dachte. In den kommenden Jahren wurden die Fahrräder abgeschlossen und die Einheimischen waren nicht mehr so freundlich. Nach vier Wochen hatte ich viele Erfahrungen gesammelt. Ich hatte viele andere Neugierige getroffen, sowie auch die „Ideologie-Imperialisten“, die mit ihrem unstillbaren Sendungsbewusstsein ihre Weltvorstellungen nicht für sich behalten konnten und wollten.
Vor uns konnte keine Generation so frei durch Europa reisen. Davon wollte ich mehr. Die Welt hatte mich neugierig gemacht.
Wir mussten nach unserer Interrailtour erstmal viel schlafen, bevor wir unser neues Schülerleben beginnen konnten. Die neue Fachoberschule war noch nicht ganz sortiert, aber mit Lehrern bestückt, die einen 68er Hintergrund hatten und den, an bayrischen Schulen noch strengen „Paukerstil“, durch etwas Freieres und Moderneres ersetzen wollten.
Das gefiel uns neuen Fachoberschülern und das Interesse, am Unterricht teilzunehmen und sich zu beteiligen, wuchs an. Die Klassengemeinschaft war gut und wir Schüler verbrachten häufig auch unsere Freizeit miteinander.
Im Winter wie auch im Sommer waren wir oft auf den Allgäuer Berghütten unterwegs. Die Zweiliterflaschen Lambrusco -der billigste Rotwein seinerzeit- gehörten dazu, genauso wie meine Gitarre, zu der wir sangen und abwechselnd spontan unsere eigenen Strophen zu bekannten Liedern dichteten. Bob Dylan, Leonhard Cohen, Joan Baez, genauso wie Deep Purple, Uriah Heep und die Stones waren unsere musikalische Inspiration. Ich verbrachte viel Zeit mit Schnurzi, einem Mädel aus Sonthofen, das die Berge, Freiheit und Natur genauso liebte wie ich. Sie war „ein echter Charakter“. Wir konnten streiten, manchmal stundenlang, ohne hinterher verletzt zu sein. Unser Verhältnis würde man heute mit „Beste Freunde“ bezeichnen. Damals wussten wir das noch nicht so genau.
Mit Schnurzi in den Lechtalern
Im Spätsommer verabredete ich mich mit meinem Freund Gerald und „Miss Portugal“ zur zweiten Interrail-Reise nach Skandinavien. Wir verbrachten erst ein paar Tage im Allgäu und ich war erstaunt, wie gut sich Maria auf mein etwas anderes Leben einstellen konnte. Wir hatten ein enges, aber völlig unkompliziertes Verhältnis.
Mit Maria in Kopenhagen
Ausflug mit Maria auf meiner alten NSU-Lux
Als wir dann auf lange Fahrt gingen und Gerald dazu stieß, wurde es noch interessanter, da er auch sehr an Maria interessiert war. Ich redete grundsätzlich nie mit anderen über meine Beziehungen zu Frauen, auch nicht mit Freunden, und so brauchte es eine Weile, bis sich alles „eingerüttelt“ hatte.
Zu Fuß durch Lappland
Maria und Gerald an der russischen Grenze beim Geschirrwaschen. Im Hintergrund ein sowjetischer Wachturm
Maria, Gerald und ich erlebten, wie schon zuvor im Allgäu, auch auf unserer Interrailreise ein paar schöne gemeinsame Wochen. Die langen Bahnfahrten durch Seenlandschaften, Wälder und Tundra, sowie die herrlichen Strecken mit dem Postschiff in Norwegen hielten alles, was wir uns an landschaftlichen „Highlights“ erhofft hatten.
Abendessen auf dem ostfinnischen Bahnhof in Joensuu
Maria musste uns nach drei Wochen Fahrt aus terminlichen Gründen verlassen. Es war eine gute gemeinsame Zeit, alles fühlte sich leicht und entspannt an. Wir konnten uns einfach nehmen, wie wir waren.
Gerald und ich waren nun nur noch ein Jungs-Team. Wir waren jetzt nach unserer Überzeugung „abenteuerfähig“.
So entschieden wir uns zwischen Narvik und Kiruna spontan, am Abisko-Nationalpark aus dem Zug zu steigen und für die Zeitdauer einer Woche über einen Teil des „Kungsleden“ nach Süden zu wandern. Der „Kungsleden“ ist ein 1500 Kilometer langer Wanderweg -Königsweg- durch Lappland. Die Einheimischen zogen damals auf diesem Pfad alljährlich mit Ihren Rentierherden im Herbst nach Süden und dann im Frühjahr zurück bis nördlich des Polarkreises.
In Abisko trafen wir zwei interrailbegeisterte Mädels aus Passau, die ich bereits im Jahr zuvor in Spanien kennengelernt hatte. Die beiden begleiteten uns bis mittags auf dem Weg nach Süden und kehrten dann aber zu meiner großen Erleichterung nach Abisko um. Ich fühlte mich auf Touren ja immer für alle verantwortlich.
Mit zwei Passauer Mädels im Abisko Nationalpark
Für eine längere Wanderung durch das wilde Lappland weit nördlich des Polarkreises waren wir eigentlich nicht ausgerüstet, und die Mädels mit ihren Turnschuhen schon gar nicht. Jetzt, wo wir nun schon mal hier waren, war unsere Entdeckerlust groß. Es gab in dieser Gegend zwar vereinzelt auch Wölfe und Bären, das Risiko, was damit verbunden war, konnten wir aber nicht leicht einschätzen. Gerald und ich gingen weiter durch die Tundra, an fast schwarzen, eisenhaltigen Bergen entlang, über Bäche und unzählige, mit Flechten bedeckte Steine. Millionen von Steinen gab es hier mit Millionen von verschiedenen Flechten auf ihrer Oberseite. Das war schon erstaunlich; keine der Flechten glich in Form und Struktur der anderen. Den Rentieren war das vermutlich egal. Die Flechten waren ihre Hauptnahrung. Unsere ständigen Begleiter auf dem Kungsleden waren gefühlt Millionen von Mücken. Als wir abends das erste Biwak aufschlugen, uns hinsetzten, mit dem Campingkocher eine Dose Ravioli kochten, und mein weißer Strickpullover sich mit Mücken schwarzgefärbt hatte, waren wir uns nicht mehr sicher, ob diese Tour eine gute Entscheidung war. Außerdem hatten wir den ganzen Nachmittag und Abend niemanden mehr getroffen. Die folgende Nacht war trocken, aber wir schliefen trotzdem schlecht. Nach einem Becher Tee am Morgen liefen wir schweigend los, weiter Richtung Süden. Immer weiter gingen wir. Vereinzelt war auch mal ein Weg zu erkennen und manchmal lagen sogar ein oder zwei Holzbalken über einem Bach, was uns zumindest das Aus- und Wiederanziehen der Schuhe ersparte. Das Tal, und dann die Hochebene, die wir entlangwanderten, waren