Weltenleuchten. Martin Müller

Weltenleuchten - Martin Müller


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darauf, sie wenigstens die fünfzehn Minuten bis zur wichtigsten Wegabzweigung zu begleiten. Eigentlich ist der Weg, wenn man auf dem Hauptweg blieb, sehr einfach zu begehen. Ansonsten konnte es schon auch gefährlich werden. Nach einer halben Stunde kam mein Vater zurück. Ich musste ins Bett im Matratzenlager und die Männer spielten in der Gaststube weiter Schafkopf. In dieser Stunde musste sich die Frau verlaufen haben und stürzte ab. Das sollten die Kartenspieler aber erst später erfahren. Nach ein paar Tagen war das Grüntenabenteuer vorbei und wir fuhren im BMW-Janus über den Zaumberg wieder heim. Es war wieder ein Erlebnis, von der umgekehrten Rückbank aus den Grünten wieder kleiner werden zu sehen. Einige Wochen später, als ich gerade vom Fußballspielen nachhause kam, spürte ich eine angespannte Stimmung in der Wohnküche. Um die Eckbank saßen zwei ernst dreinschauende Männer, die meinem Vater über zwei Stunden nur Fragen stellten. Sie waren von der Kriminalpolizei aus Kempten. Mein Vater war anscheinend die letzte Person, die die Frau lebend gesehen hatte. Ihre Überreste waren kürzlich unter einer Felswand am Grünten gefunden worden. Außer ihrer Kleidungsstücke war von der Leiche nicht mehr viel übrig, die Füchse hatten mittlerweile ganze Arbeit geleistet. Die Arbeit der Kommissare war schwierig, denn aufgrund des Zustands der Leiche konnte auch ein Gewaltverbrechen nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Zum Glück war die Fundstelle der Leiche weiter entfernt als mein Vater in einer halben Stunde hin- und zurücklegen konnte und da auch die anderen Gäste des Abends im Grüntengasthaus das Alibi bestätigten, wurde unser Vater von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Bis dies geklärt war, war die Familie voller Sorge um den Vater.

      Die meiste Zeit verbrachte ich draußen, war nun sieben Jahre alt und steckte weit oben im Wipfel der höchsten Fichte des Wäldchens fest. Das war im Wul, ein enges, naturbelassenes Tal, durch das sich der Dorfbach seinen Weg gebahnt hatte.

      Ich hatte Angst und spürte einen „kalten Krampf im Nacken“. Jetzt war mir klar, dass es Ernst war. „Warum mache ich sowas“? Das war eine Frage, die ich mir im Laufe meines Lebens immer wieder stellen sollte. Mit meinem Freund, dem Hieble Gottfried, hatte ich gerade mit „Schwertlingen“ auf ungefähr zwanzig Metern Höhe die Bodenplatte für ein Baumhaus gebaut. Da Gottfried an diesem Tag früher nachhause musste, war ich noch geblieben und ganz allein nach „ganz oben“ geklettert, auf den „Ausguck“, um nach eventuellen Feinden – wie zum Beispiel der „Leko-Bande“ – Ausschau zu halten. In meiner Fantasie war die Welt der Indianer voller Feinde. Um die Übersicht über die Feindeslage zu bekommen, war ich irgendwie nach ganz oben in den äußersten Baumwipfel geklettert. Das Dumme war, dass der Kletterweg hinab zum Baumhaus plötzlich nicht mehr sichtbar war. Diese „kalte Angst im Nacken“ war massiv, aber es war mir klar, dass ich irgendwie wieder runter musste.

      Mit einer plötzlichen Idee wurde ich wieder ganz ruhig und ließ mich schließlich auf einem dünnen Ast, lang ausgestreckt, hinuntergleiten, um mich dann schnell und akrobatisch wieder an einem tieferen Ast festzuhalten. Das fiel nicht so schwer, denn ich war ja federleicht. Gut, dass meine Eltern das nicht gesehen hatten. Die Gabe, bei Gefahr zwar Angst aber keine Panik zu bekommen und mich plötzlich voll konzentrieren zu können, hatte ich zum Glück wohl von meinem Vater geerbt. Der Rest des Baumes war Routine und ich ging, immer noch voller Adrenalin, nach Hause. Dieses anregende Gefühl gefiel mir. Täglich, außer wenn zu viel Schnee lag, spielte ich mit den anderen Buben aus dem Dorf Fußball und das mit viel Körpereinsatz. Dies bedeutete, dass ich, weil ich zwar schnell laufen, aber wenig Körpergewicht einsetzen konnte, regelmäßig ziemlich rustikal „abgeräumt“ wurde. Das tat meist richtig weh, aber ich empfand das als normalen Teil des Spiels. Ich kannte es ja nur so und ein Indianer kennt ja bekanntlich keinen Schmerz. Ich wurde zunehmend härter im Nehmen und war stolz, dass die anderen keine Rücksicht auf meinen dürren Körper nahmen. Dieser Umstand und dass meine Eltern mir, sicherlich trotz stiller, größter Sorgen, alles ermöglichten, damit ich ein normales Leben auf dem Dorf, meistens „an der frischen Luft“, leben durfte, ließen mich glauben, ein ganz normaler, gesunder Junge zu sein.

      Gottfried und ich mit Kronenwirts Ponys Hansi und Maron, vor unserem

      Haus

      Mit meiner Familie auf Kronenwirts Kutsche, gezogen von Liesl

      Die Ferien am Rande des Ruhrgebiets, in die ich regelmäßig geschickt wurde, empfand ich auch tatsächlich als Ferien bei Opa, Tanten und Onkel, obwohl das eigentlich eine vom Arzt empfohlene Verzweiflungs-Maßnahme war. Die Ferien sollten durch die „Luftveränderung“ und deren Wirkungen endlich den Keuchhusten beenden.

      Die Tanten -selbst kinderlos- opferten sich für mich auf und lasen mir jeden Essenswunsch an den Lippen ab. Schnell fanden sie heraus, dass Kartoffelpüree in meinem Magen blieb und so gab es das täglich. Mir war es recht, denn ich liebte Kartoffelpüree.

      Wenn ich mal nicht so „brav“ war, hielt mein Opa die verärgerten Tanten in Schach. Wenn er mit seinem Eisenbahner-Käppie so im Schaukelstuhl saß, seine Pfeife rauchte und dabei verschmitzt, aber gütig lächelte und dabei eine Augenbraue hochzog, war das Autorität.

      Mein von allen geliebter Schomburg-Opa

      Auch der Onkel ordnete sich da unter und spielte eine wenig sichtbare Rolle. Er hielt sich immer im Hintergrund auf. Im Alltag „herrschten“ die Tanten, außer wenn eine größere Ausgabe anstand. Dann musste der Beamte im Vorruhestand, Onkel Heinz, herhalten; zum Beispiel, wenn der Junge mal wieder ein neues Modellschiff oder -flugzeug bauen wollte. Das Wohnzimmer der Tanten wurde dazu dem Buben als Werkstatt zur Verfügung gestellt. Es ging mir gut bei meinen Verwandten.

      Und die Welt war weiter in Bewegung:

      1960.

       Zahlreiche afrikanische Staaten werden von ihren Kolonialmächten unabhängig.

       In Südafrika toben Kämpfe gegen die Rassentrennung.

       Die NATO arbeitet eng zusammen und rüstet auf. Frankreich wird zur 4. Atommacht.

       In Algerien rebellieren Moslems gegen französisch-stämmige Siedler.

       John F. Kennedy wird neuer Präsident der USA.

       Fidel Castro wendet sich von den USA ab und nähert sich der Sowjetunion an.

       Die Sowjets sichern sich die Vormachtstellung im „Ostblock“.

       China konzentriert seine Vormachtstellung auf Asien. Der europäische Wirtschaftsraum wächst weiter zusammen.

       Im Kongo kommt es schon bald nach der Unabhängigkeit zu schweren Unruhen.

       Chruschtschow blockiert auf der UN-Vollversammlung in New York eine Regelung über die Zukunft Berlins.

      Alles ist immer im Fluss

      In der Volksschule, wie damals die Schulen der Klassen eins bis acht hießen, gab es vier Lehrer. Jeder von ihnen unterrichtete zwei Klassen parallel.

      Die Schulzeit begann für mich sehr entspannt. Wegen meiner gesundheitlichen Schwächung wurde ich erst mit fast sieben Jahren eingeschult. Ich war anfangs ein guter Schüler. Meine Lehrerin war zwar streng, konnte mich aber motivieren. Schon morgens vor dem Frühstück mit Kaba und Haferflocken malte ich mit Buntstiften oder Wasserfarben Phantasiebilder; und Phantasie hatte ich unerschöpflich. Danach ging es zur Schule. Nach Schulschluss kam ich mit heller Stimme -laut singendheim. Meine Mutter konnte mich die letzten hundert Meter schon heimkommen hören und amüsierte sich jedes Mal. Am Nachmittag ging es dann zum Spielen hinaus an die frische Luft. Wenn das Wetter sehr schlecht war, baute ich zusammen mit Gottfried oder Albert, meinen Freunden aus der Nachbarschaft, komplizierte Maschinen aus Legosteinen, wir spielten mit der Modelleisenbahn, oder ich spielte auch mal eine Runde Schach mit meinem Vater. Im Winter nahm er uns ab und zu zum Orgelkonzert in die Basilika nach Ottobeuren mit.


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