Weltenleuchten. Martin Müller
Danach war ich geheilt, was den Konsum von harten Drinks betrifft.
Es traf sich gut, dass in einem Pflegeheim, oberhalb des Kinderheims in dem ich arbeitete, eine neue Heimleiterin aus München ihre Arbeit aufnahm. Helen war zehn Jahre älter als ich und hübsch. Das konnte eine nette und unkomplizierte Nachbarschaft werden und wurde es dann auch erstmal.
Der meist harmonische Tagesablauf im Kinderheim wurde dann doch einmal von einem unerwarteten Zwischenfall unterbrochen.
In einem plötzlichen Wutanfall schlug mir einer meiner Schützlinge gänzlich unvermittelt mit der Faust ins Gesicht und brach mir die Nase. Das war sehr schmerzhaft und ärgerte mich in dem Moment, als es passierte. Aber dieses Erlebnis ließ mich nicht grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit meines Jobs zweifeln. Ich stellte mich kurzerhand vor den Spiegel und richtete unter großen Schmerzen und mit dem Geräusch mahlender Knochen im Kopf meine Nase wieder mittig ein.
Am folgenden Tag wurde mit der Heimleitung beraten, wie mit diesem Fall umgegangen werden soll. Ich entschied mich gegen eine Meldung beim Jugendamt. Dies hätte die Resozialisierung des jungen Schlägers noch weiter verschlechtert und so verpflichtete ich ihn stattdessen dazu, nun täglich für vier Wochen mit mir in hohem Lauftempo den naheliegenden Berg rauf und runter zu rennen. Das funktionierte erstaunlich gut. Fünf Jahre später bekam ich Besuch von diesem inzwischen achtzehnjährigen jungen Mann, der sich nun auf seine Art bedankte, indem er mir seine Freundin vorstellte. Dabei teilte er mir mit stolzer Brust mit, dass er gerade seine Lehre mit der Note „Gut“ abgeschlossen hatte.
Leider war nicht immer alles so erfolgreich. Ich war oft genervt vom rigorosen Umgang der Jugendamtsvertreter mit den Kindern und Jugendlichen. Auch die Entscheidungen zum weiteren Verbleib, Heimwechsel und Wiedereingliederung unserer Schützlinge in deren Familien konnte ich oft nicht nachvollziehen.
Mein vielleicht unerfahrener Eindruck war, dass der Inhalt der Aktenkoffer der Jugendamtsvertreter oft wichtiger war, als der persönliche Eindruck der Erzieher, die sich im Alltag mit den Kindern beschäftigten. Meine Zweifel, ob ich in diesem, für meinen Geschmack überbürokratisierten Sozial-System auf Dauer richtig aufgehoben war, mehrten sich.
Und dennoch: Nach zwei Jahren Fachoberschule hatten dann Peter, Wolfi und ich unser Fachabitur in der Tasche und damit eine weitere Hürde in unserer schulischen Entwicklung geschafft.
Es folgten die nächsten Sommerferien und Gerald und ich starteten in einem klapprigen Käfer wieder Richtung Süden.
Der Plan war, unter anderem, mit meinem alten Kolibri zum Segeln an den Atlantik zu fahren. Dafür wurde die Segeljolle auf dem Dachständer befestigt und wir fuhren Richtung Portugal.
Mit der Jolle auf dem Dach schafften wir selten mehr als 80 Stundenkilometer und die Fahrt zog sich.
Unser Glück war, dass wir in Frankreich einen Tramper mitfahren ließen. So konnten wir kurz vor Biarritz den Kolibri auf dem Hof seiner Eltern bis auf Weiteres abstellen. Nun ging es endlich etwas zügiger nach Spanien. Es gab damals nur wenige deutsche Autos, die über die Landstraßen fuhren. Uns fiel immer wieder ein ungefähr Fünfundzwanzigjähriger auf, der mit seinem Opel-GT -einem Traumsportwagen für damalige Zeiten- unterwegs war. Wir überholten uns gegenseitig immer wieder, da der Düsseldorfer zwar schneller fuhr, aber wir zu zweit weniger Schlafpausen brauchten. An einer Tankstelle sprachen wir ihn an. Er war der Sohn eines Fabrikanten aus Düsseldorf und hatte keinen Bock mehr auf seinen Vater, der ihn zu seinem Nachfolger in der Firma machen wollte.
Er dagegen träumte von der großen Freiheit, hatte sein Konto abgeräumt und war nach Süden aufgebrochen. Sein Ziel: Afrika. Ob ihm bewusst war, dass man dort auf den meist löchrigen Asphalt- Erd- oder Sandstraßen keinen tiefergelegten Opel-GT fahren konnte, wussten wir nicht. Er war ein Produkt seiner Zeit, wie wir auch. Hauptsache raus und weg, das andere würde sich dann schon ergeben.
Wir hofften für ihn, dass das so sein würde. Unsere Wege trennten sich ab hier.
Über die geraden Landstraßen fuhren wir oft mit Handgas, stellten uns auf die Sitze und schauten weit aus dem geöffneten Schiebedach ragend, eine Hand nach unten ans Lenkrad gestreckt, auf das lange gerade, graue Straßenband vor uns. Meine Vorfreude auf Maria stieg mit jedem gefahrenen Kilometer und wir erreichten nach einer langen Fahrt am Abend des dritten Tages endlich Lissabon. Pausen hatten wir fast keine gemacht. Wir wohnten bei Maria in einer kleinen Wohnung im berühmten alten Wohnviertel am Hang. Diese schönen, alten, „vergilbten“ Häuser mit den kunstvollen, eisengeschmiedeten Gittern um die kleinen Balkone, teilweise noch mit den typischen, meist blau-weißen Kacheln verziert, strahlten eine einzigartige Baukultur aus.
Eine der vielen wunderschönen portugiesischen Kacheln mit Fado-Motiv
Von hier oben hatte man einen grandiosen Ausblick über die Stadt. Es gab kaum Straßen dort hinauf, aber dafür Fußwege mit endlosen Stufen, auf denen die Bewohner am späten Abend immer ihre Hauptmalzeit einnahmen, denn draußen war es etwas kühler und es war auch mehr geboten. Moderne Stadtplaner hätten das altstädtische, autofreie Sozialleben -es wurde noch hauptsächlich die alte Straßenbahn benutzt- in ihren kühnsten Visionen nicht besser gestalten können. Fado tönte stimmig zur Baukultur überall aus dem Radios. Gerade war die neue Vinyl-Platte „Fado“ von Ada De Castro herausgekommen. Wir konnten diese wunderbare, alte, aber immer noch „lebendig-morbide“ portugiesische Kultur mit all unseren Sinnen wahrnehmen. Abends gingen wir auf das Gelände der Universität. Es gab große Studentendemonstrationen und endlose Diskussionen. Ich „Provinzler aus dem Mittleren Europa“ war von dieser „Vor-Revolutionsstimmung“ angeregt bis in die Haarspitzen. Es lag eine knisternde Spannung in der Luft und wir, Gerald und ich, waren dabei! Der Anfang vom Ende der 40-jährigen Diktatur von Staatspräsident Antonio de Oliveira Salazar und seines archaischen Staates war eingeläutet! Zwei Jahre lang dauerten diese friedlichen Studenten Demonstrationen noch fort; dann war es soweit: Die Sendestation „Radioclub Portugues“ spielte „Grândola, Vila Morena… “-Grândola, du braungebrannte Stadt…-, das Startzeichen für die 1974 endlich erfolgreiche Revolution, in der es am Ende „nur“ 4 Tote zu beklagen gab. Es war der Beginn einer neuen Demokratiebewegung in Südeuropa. Danach stürzten auch die Diktaturen in Griechenland und Spanien.
Maria war ein inzwischen erfolgreicher Fernsehstar In Portugal. Sie nahm uns tagsüber ein paarmal mit zu Dreharbeiten in die Studios, aber nachdem wir, auch der blonde Gerald, plötzlich auch noch kleine Filmgastrollen übernehmen sollten, setzte bei mir ein Fluchtdrang ein. Das war zu viel überdrehtes Medientheater für meinen Geschmack. Die gemeinsame Zeit mit Maria in Lissabon ging zu Ende. Maria und ich wussten beide, dass unsere Welten nicht mehr zusammenpassen würden und lösten unser Verhältnis auf. Mir fiel es sehr schwer, zu akzeptieren, dass sie ihr Studentenleben, dieser seltsamen Medienwelt geopfert hatte. Jahre später erhielt ich einen Brief von ihr, in dem sie mir mitteilte, dass sie ihr Medizinstudium wieder aufgenommen hatte. Ich freute mich riesig darüber und wir blieben noch eine Zeitlang in Kontakt. Maria war tatsächlich Ärztin geworden, hatte bald nach unserer Trennung geheiratet und zwei Kinder bekommen. Sie wurde sehr wohlhabend. Irgendwann reagierte ich nicht mehr auf Marias, zwischen den Zeilen versteckte Hinweise, die immer noch Interesse an mir zum Ausdruck brachten. Unsere Welten hatten inzwischen keine gemeinsamen Schnittflächen mehr.
Das zähe Ringen zwischen Werden und Sein
Die Bundeswehr hatte sich gemeldet und mich für tauglich befunden. Ich sollte also für 15 Monate meine Freiheit aufgeben und dienen. Das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen und stellte einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Den Hinweis von Bekannten, dass der Erfolg erheblich mit der Unterstützung eines Anwalts steigen würde, nahm ich nicht ernst.
Ich hatte mich erstmal mit meinem Freund Wolfgang zu einer Alpenüberquerung verabredet.
Mit Gerald und Wolfgang in den Lechtaler Bergen
Über Wolfgang hatte ich auch Erich und dann seine Frau Karin zunehmend kennengelernt. Sie waren dabei das zu tun, wofür ich mich noch viel zu