Weltenleuchten. Martin Müller
anzutreffen. In den Zeiten ohne Handy waren Situationen wie diese äußerst misslich. Zum Glück hatten wir für den Fall der Fälle, Datum, Uhrzeit und einen Ort in Stockholm verabredet, an dem wir uns treffen würden. Kurz nach Ablauf dieser Zeit und vor Abfahrt der nächsten Bahn nach Kopenhagen entdeckten wir uns und fuhren gemeinsam weiter in Richtung Süden.
Wie schon zuvor machten wir auch diesmal Halt bei meinen Tanten, Onkel und Opa im Ruhrgebiet. Die lauschten immer gerne den Abenteuern, die ich mit meinen Freunden zu berichten hatte und wir ließen uns dafür kulinarisch verwöhnen.
Das nötige Geld für diese Lapplandreise und weitere Unternehmungen hatte ich beim Auf- und Abbau der Allgäuer Festwoche und als Bierfahrer verdient, denn mittlerweile hatte ich mit insgesamt zehn Fahrstunden den Führerschein für Motorrad und Auto gemacht.
Gerald und ich setzten unsere gemeinsamen Reisen fort, diesmal mit zwei Mädels aus der Schule und einem geliehenen Auto nach Paris.
Wir verstanden uns gut und staunten gemeinsam über den Louvre und seine Kunstwerke, auch wenn ich den Zauber des berühmten Lächelns der Mona Lisa nicht wirklich hatte verzaubernd finden können. Wieder einmal wurde mir das Auto aufgebrochen und diesmal wurden die Koffer der Mädels geklaut. Wir Jungs hatten nicht viel dabei und konnten das bisschen Verlust verschmerzen. Die Mädels waren aber wenig amüsiert und, wieder zuhause, musste ich eine dicke Beschwerde ihrer Eltern über mich ergehen lassen. Jede Reise hat eben ihre schönen und ihre nervigen Seiten. Das hatte ich inzwischen auch gelernt.
Auf die große Freiheit der Ferienzeit folgte dann wieder Schule und mehrere Praktika.
Mit dem ersten Pflichtpraktikum an einer Grundschule, in dessen Rahmen ich auch Unterrichtsstunden vorbereiten und halten durfte, wurde mir bewusst, dass ich auf keinen Fall der hundertste Lehrer aus den Reihen meiner Mitschüler des früheren Gymnasiums werden wollte, auch wenn ich in diesem Beruf nun durchaus die Herausforderungen erkennen konnte.
Ich hatte parallel zur Fachoberschule eine Ausbildung als Pflegehelfer gemacht. Ich wollte mich ja selbst finanzieren und wurde so im Isnyer Krankenhaus immer wieder für Sitzwachen bei Schwerstkranken eingesetzt. Das hat mir Zeit und Gelegenheit gegeben, über Leben und Sterben nachzudenken und war gleichzeitig eine zuverlässige Möglichkeit, mein Leben unabhängig zu finanzieren.
An den Nachmittagen half ich gelegentlich einem Landwirt, Organisten und Chorleiter, dessen Familie mit unserer befreundet war, zwei elektronische Kirchenorgeln zu bauen; eine für dessen Eigengebrauch und eine weitere für meine Schwester Marianne, die eine Ausbildung als Organistin begonnen hatte. Es war ein wohltuendes Erlebnis, stundenlang bei der Familie Rist in der Stube im Eisenbolz zu sitzen und Teile zu löten. Als am Ende beide Orgeln funktionierten, hatte ich selbst Spaß daran, das Spielen auf diesem Instrument zu versuchen. Ich war bei diesem Projekt zwar nur der „Hilfsarbeiter“ gewesen, aber dennoch ziemlich stolz auf dieses gemeinsame Ergebnis.
Dagegen waren die Nächte im Krankenhaus fast immer endlos lang, weil die Sterbenden, bei denen ich wachte, kaum noch kommunizieren konnten, sondern nur noch still auf ihr Ende warteten. Nur die Maschinen neben ihnen gaben Geräusche von sich. Die Nachtwachen waren eine stille und einsame Angelegenheit, hatten aber manchmal auch etwas sehr Friedliches an sich. Keiner hatte mich auf diese Arbeit vorbereitet. Und so drückte ich, wenn mir etwas nicht geheuer vorkam, den Alarmknopf für die Nachtschwester. Ich bemerkte jedoch schnell, wie müde und überarbeitet die Nachtschwestern meistens waren, sodass ich mir angewöhnte, nur noch so selten wie möglich anzuklingeln. Mit diesem Vorsatz hielt ich auch an einem Heiligen Abend Sitzwache bei einem Zwanzigjährigen mit Muskelschwund im Endstadium. Der Sterbende konnte nur noch ganz leicht seine Augen bewegen. Es war zu erwarten, dass er, kaum älter als ich, diese Nacht nicht überleben würde. Ich saß lange Zeit neben ihm, saugte ihm ab und zu den Speichel aus dem Mund- und Rachenraum ab, da er nicht mehr selbst schlucken konnte. Irgendwann passierte mir das, was einem „Sitzwachler“ nicht passieren sollte. Ich schlief ein, nur eine halbe Stunde. Als ich aufwachte, war der Junge tot. Ich rief sofort die Nachtschwester und erzählte ihr, was passiert war. Zu meinem Erstaunen lächelte sie und meinte, dass mich keine Schuld treffe; der Junge sei sicher schon vor meinem Einschlafen gestorben und sie sei froh, dass er „es geschafft“ habe. Sie wollte mich nicht belasten. Ich war schockiert von diesem Erlebnis, dann völlig erschöpft und fühlte mich sehr einsam. Ich sehnte mich nach Liebe und Nähe, so wie immer, wenn ich dem Tod so nahekam. Da ich kein Auto hatte und nicht einfach nach Hause fahren, ins Bett gehen und schlafen konnte, verbrachte ich noch eine halbe Stunde auf der Station und ging dann hinunter in die Bäderabteilung. Dort hatte ich mein erstes Krankenhauspraktikum gemacht und wusste daher, dass man auf den Massageliegen gut liegen und schlafen konnte. Völlig erschöpft legte ich mich hin und schlief sofort ein. Morgens wachte ich mit dem ersten Licht auf und bemerkte, dass hinter einem Plastikvorhang neben mir der tote Junge lag. Erst da wurde mir bewusst, dass die in der Nacht Verstorbenen in die Bäderabteilung kommen, bis sie von der Frühschicht in die Leichenhalle gebracht wurden. Mit erneutem Schrecken, verließ ich rasch das Krankenhaus, um per Anhalter nachhause zu fahren. Für einen „Nichtwirklichmediziner´“ hatte ich erstmal genug Krankenhauserfahrung gesammelt.
Auf die Zeit im Krankenhaus folgte ein weiteres Praktikum, das schließlich eine wichtige Wende in meinem Leben einleitete. Ich fing an, in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder in Weilerle zu arbeiten. Schnell wurde ich als volle Arbeitskraft und Hilfserzieher eingesetzt und nach dem offiziellen Ende der Praktikumszeit von zwei Wochen erhielt ich vom Heimleiter das Angebot, für ein kleines Gehalt, ein Zimmer und freies Essen weiterarbeiten zu können, wenn ich wollte. Ich nahm gerne an. Oft arbeitete ich allein mit den dreizehn Kindern, die alle in ihren Familien eine schlechte Kindheit hinter sich hatten. Ich tat, was an Arbeit anfiel und verbrachte viel Zeit mit den Kindern draußen beim Spiel und beim Wandern oder Skifahren in den Bergen. Hier konnte ich sehr selbstbestimmt arbeiten und das funktionierte gut. Dabei hatte ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Mit den Kindern kam ich gut klar. Mit dieser Erfahrung kam für mich der Durchbruch zu einem freieren und unabhängigeren Leben.
Meine Eltern hatten meinen Auszug von zuhause zuerst sorgenvoll zur Kenntnis genommen. Da ich sie aber regelmäßig besuchte und von meinen Erfahrungen berichtete, verringerten sich ihre Ängste allmählich und sie hofften stattdessen, dass ich mit einer solch verantwortungsvollen Aufgabe im Heim als Mensch wachsen würde.
Ob diese Arbeit für meinen Fachoberschulabschluss förderlich sein würde, bezweifelten sie aber vermutlich insgeheim sehr.
Ich hatte inzwischen eine alte NSU-Lux und war nun mit dem schwergewichtigen alten Zweitakter-Motorrad endlich mobil. Morgens sorgte ich dafür, dass die Kinder rechtzeitig zum Schulbus kamen. Der hielt direkt vor dem Haus, was natürlich hilfreich war. Gleich danach fuhr ich selbst nach Kempten in die Fachoberschule. Am frühen Nachmittag kam ich rechtzeitig zurück, bevor die Kinder von ihrer Schule aus Weitnau wieder nachhause kamen. Nach einigen Wochen kam Unterstützung durch eine gelernte Erzieherin aus Berlin. Wir verstanden uns gut und konnten uns zeitlich abwechseln, sodass nun auch Wochenendfreizeit möglich wurde. Auch die Tochter des Bauern von nebenan half in Teilzeit beim Kochen und Saubermachen. Der Heimleiter gesellte sich abends mit seiner Familie dazu und entlastete uns, sodass für uns in gewissem Umfang auch ein Nachtleben stattfinden konnte. Tagsüber arbeitete er allerdings als Psychologe in einem großen Jugendheim in der Stadt und wir mussten die Arbeit und die Verantwortung alleine stemmen. Mit viel Improvisation funktionierte das gut, auch wenn ein Vertreter des Jugendamts bei unangekündigten Kontrollen wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.
Mehr und mehr machte das Jugendamt wegen der mangelnden Gebäudesicherheit Druck, sodass wir schließlich in ein ehemaliges Schulgebäude nach Masers umzogen.
Dort waren die Bausicherheitsvorschriften besser eingehalten worden als in der alten Sennerei in Weilerle, die den Jugendlichen bislang als Heim gedient hatte. Wir setzten also unseren Betrieb fort – nun auch mit der vorgeschrieben Mindestanzahl an Personal. Auch mir passte Masers als Standort gut, da es etwas näher an Kempten lag. Ich bekam häufig Besuch von meinen neuen und alten Mitschülern und wurde wegen meines freien und selbstständigen Lebens bewundert.
Es wurde viel gefeiert. Mir gefiel es, Anerkennung für meine Arbeit