Vergiss mein nicht!. Kasie West

Vergiss mein nicht! - Kasie West


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ist kein Mitläufer, er kann eigene Entscheidungen treffen und er hat überhaupt keine Problem damit, hier allein zu sitzen. »Warum machst du nicht mit?«

      »Weil eine Schicht Farbe meine Fettschicht nicht besonders gut kaschiert.«

      Ich mustere ihn kurz. Eigentlich sieht er ganz fit aus, aber mit seiner Jacke ist das schwer zu beurteilen. Mein Blick wandert zurück zu seinen Freunden. »Vorteilhaft sieht das bei ihnen auch nicht aus«, bemerke ich.

      Er lächelt. »Außerdem ist es heute Abend kalt.«

      »Da ist eine Fettschicht ja nicht das Schlechteste.«

      »Stimmt.« Ein Pfiff ertönt und er widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Spielfeld. Der Quarterback schnappt sich den Ball und sofort überrollt ihn ein harter Angriff, kurz vor der Dreißig-Yard-Linie. Ich ziehe die Luft zwischen zusammengepressten Zähnen ein.

      »Ich heiße übrigens Trevor«, sagt er jetzt, als das Spiel stoppt.

      »Addie.«

      »Addie?«

      »Ja, Kurzform für Addison.«

      »Gehst du auch hier zur Schule, Addison?«

      Mir wird durch seine Frage klar, wie groß die Schule sein muss. An meiner alten Schule habe ich vielleicht nicht jeden mit Namen gekannt, aber ein neues Gesicht hätte ich immer erkannt. »Mein Vater und ich sind gerade hierhergezogen. Ich fange Montag mit der Schule an.«

      »Ah, toll. Willkommen in Dallas.«

      »Danke.«

      »Bist du in der Abschlussklasse?«

      »Eine davor. Und du?«

      »In der Abschlussklasse.« Sein Blick wandert zurück zum Spiel.

      Ich werde auf etwas am Spielfeldrand aufmerksam. Ein Mann in einem riesigen Pumakostüm umkreist die Cheerleader. An der Lincoln High haben wir auch ein Maskottchen – einen Blitz. Und ich hab gehört, dass dank der Illusionisten die meisten Heimspiele tatsächlich eine Lichtshow bieten (wahrscheinlich um von dem langweiligen Spiel abzulenken).

      Ich zucke zusammen, als das Spiel wieder stoppt, die Spieler brutal ineinander verkeilt.

      »Magst du kein Football?«, fragt Trevor.

      »Ehrlich gesagt, mag ich es lieber so. Ist aufregender.«

      »Aufregender als ...«

      »Äh, als Flagfootball«, sage ich und bin stolz, dass ich so schnell auf diese Variante gekommen bin. Die Sache mit dem Sektor, von wegen, dass einem nichts herausrutschen darf, wird schwerer werden als gedacht. Schließlich war es mein ganzes Leben.

      »Du hast dir schon mal ein Flagfootball-Spiel angeschaut?«

      »Eigentlich nicht, aber du musst doch zugeben, dass das hier aufregender ist.«

      »Viele Dinge sind aufregender als Flagfootball.«

      »Stimmt.«

      Das restliche Spiel verbringen wir in angenehmem Schweigen, das nur von wenigen Kommentaren unterbrochen wird. Am Ende habe ich seine abweisende Haltung angenommen: Die Hände tief in den Taschen und die Schultern zum Schutz gegen den Wind hochgezogen. Das Spiel wird abgepfiffen und seine Freunde stürmen herauf; eine chaotische Truppe bemalter Typen. Ich will mich davonmachen, aber einer von ihnen hält mich mit einem lauten »Hi, wer bist denn du?« auf.

      Ich will schon antworten, aber Trevor ist schneller. »Leute, das ist Addison. Sie ist neu hier.«

      »Addie genügt«, sage ich, aber meine Stimme geht in dem großen Hallo völlig unter.

      Er nennt diverse Namen. Um mir Namen merken zu können, helfe ich meinem Gedächtnis normalerweise auf die Sprünge, indem ich den Namen der Person mit einem ihrer Körpermerkmale verknüpfe. Aber da alle voller Farbe sind, werde ich mich nach heute Abend mit Sicherheit nicht mehr daran erinnern können, wer wer war. »Nett, euch kennenzulernen. Wir sehen uns sicher Montag.« Wieder versuche ich zu gehen. Derselbe Typ, der mich gerade eben aufgehalten hat – Rowan, der mit den roten Farbstreifen im Gesicht –, hält mich noch einmal zurück und sagt: »Nach dem Spiel machen wir alle Party bei Trevor. Du solltest auch kommen.«

      Ich hab wirklich keine Lust, mit einem Haufen Normalo-Typen zu feiern, die ich nicht kenne. Ich werfe einen Blick auf die Uhr meines Handys. Halb zehn. Noch zu früh, um vorzugeben, müde zu sein, oder zu behaupten, dass ich nach Hause muss.

      »Hattest du nicht gesagt, dass dein Dad dich heute Abend beim Auspacken braucht?«, fragt Trevor.

      Ich bin verblüfft. War meine Körpersprache tatsächlich so offensichtlich?

      »Ja, genau. Eigentlich soll ich ihn gerade in diesem Moment treffen. Nächstes Mal?«, sage ich zu Rowan.

      »Ganz bestimmt.«

      Ich ziehe mich langsam zurück. Danke, forme ich stumm mit den Lippen in Trevors Richtung. Die anderen albern herum und sind abgelenkt.

      Er nickt. »Wir sehen uns Montag.«

      PARAlogisieren – unlogische Schlussfolgerungen ziehen, die auf Annahmen beruhen

      Ich starre auf die zwei Türen. Sie sehen beide so echt aus. Aber ich weiß, dass eine von ihnen eine Täuschung ist, die ein Illusionist mir vorgaukelt. Sobald ich herausgefunden habe, welche von beiden die richtige ist, muss ich sie öffnen. Dahinter sitzt Mrs Stockbridge und hat auf ihrem Tablet vermutlich schon die Zensurenrubrik aufgerufen. Die Vorstellung, wie sie gleich das fette F eintippen wird, hilft meiner Konzentration nicht gerade auf die Sprünge. Ich brauche eine gute Note in diesem Kurs, weil ich Gedankenübertragung verbockt habe. Ich frage mich, ob sie das F rot markieren wird, um meine Unfähigkeit zu unterstreichen. Ich würde es tun.

      Stopp. Konzentrier dich.

      Im Kopf gehe ich den Lehrstoff über Täuschungen durch. Unregelmäßigkeiten im Bild. Ich lasse meinen Blick zwischen beiden Türen hin- und herwandern. Sie sind identisch. Wellen, Bewegungen oder Verschwommenheit auf einer sonst festen Fläche. Keine. Fadenscheinige oder durchsichtige Stellen. Beide Türen sind in meinen Augen aus solidem Holz gemacht. Meine Zeit läuft ab. Dann sehe ich ihn, einen kleinen schwarzen Schmutzfleck in der Mitte der einen Tür. Ich lächle und gehe auf die andere Tür zu. Ich strecke meine Finger nach dem Handflächenscanner aus, aber meine Hand greift ins Leere. »Mist.«

      Nachdem ich durch die richtige Tür gegangen bin, schnalzt Mrs Stockbridge mit der Zunge und schreibt etwas auf ihr Tablet. Ihre Haarspange soll wohl ihre krausen roten Haare bändigen, aber sie lässt mehrere Haarsträhnen merkwürdig abstehen. Ich frage mich, ob ich nicht versuchen würde, mich anderen gegenüber immer von meiner besten Seite zu zeigen, wenn ich eine Illusionistin wie sie wäre.

      »Begründung?«

      Ich beantworte beinahe meine eigene hypothetische Frage, halte aber den Mund, als mir einfällt, dass sie ja nicht meine Gedanken lesen kann. »Wie bitte?«

      »Warum haben Sie die Tür auf der linken Seite gewählt?«

      »Ach so. Auf der echten Tür war ein schwarzer Fleck. Ich dachte, das würde auf eine Täuschung hinweisen«, gebe ich zu.

      »Manchmal entlarvt Vollkommenheit die Täuschung, Addie, nicht die Wahrheit«, sagt sie. Ich nicke und geselle mich zu den anderen, die die Aufgabe schon hinter sich haben.

      Ohne es zu wollen, bahnt sich eine Erinnerung einen Weg in mein Bewusstsein, füllt es aus und katapultiert mich in die Vergangenheit zurück. Ich bin ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt. Mein Vater macht mit mir ein Picknick in einem wunderschönen Park beim See. Nachdem ich ein paar Minuten an meinem Sandwich herumgeknabbert habe, lege ich mich wieder auf die Decke. Plötzlich erscheinen über mir Tausende von bunten Schmetterlingen. Sanft schweben sie herunter, drehen sich, kreisen wie fallende Blätter. Jeden Moment werden sie


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