Auswahlband 4 Krimis: Von Huren, Heiligen und Paten - Vier Kriminalromane in einem Band. Alfred Bekker
Videofilme oder Bücher kaufen wollten. MERCADO DE LA CASA GONZALES nannte sich ein Kaufhaus, dass die untersten beiden Stockwerke belegte. In den Stockwerken 10 bis 15 residierten spanischsprachige Ärzte und Rechtsanwälte. Der obere Teil war den luxuriösen Wohnungen vorbehalten.
Das Penthouse gehörte einem gewissen John Garcia.
Entweder handelte es sich dabei um einen Strohmann oder um eine falsche Identität, die Jacky Tasso sich für den Notfall aufgebaut hatte. So misstrauisch, wie er war, tippte ich eher auf die zweite Möglichkeit.
Unsere Leute riegelten das Gebäude weiträumig ab. Überall wurden so unauffällig wie möglich Agenten postiert. Nach und nach trafen weitere Kollegen ein.
Darunter auch Jay Kronburg und Leslie Morell, die aus dem !VENGA! abgezogen worden waren.
Orry leitete dort inzwischen eine umfangreiche Durchsuchungsaktion.
"Eine Empfehlung an alle!", meldete ich mich über das Kragenmikro. "Quatscht nur, wenn es unbedingt nötig ist. Jeder, der etwas anderes als Spanisch spricht, fällt hier in Spanish Harlem gleich auf. Also beherrscht euch."
Von einer kleinen Insel rund um die Columbia Universität, waren die Anglo-White Americans in diesem Stadtteil hoffnungslos in der Minderheit.
Unter normalen Umständen hätten wir bei so einem Einsatz die Zusammenarbeit mit dem Security Service des Buildings gesucht. Aber in diesem Fall verzichteten wir darauf. Wir vermuteten, dass Jacky Tasso seine Leute dort hatte, die ihn warnen würden.
Und das wollten wir nicht riskieren.
Mit dem Aufzug ließen wir uns hochtragen bis ganz nach oben.
Zwei G-men sicherten die Aufzüge.
Milo und ich gingen zur Tür.
Leslie und Jay hielten sich etwas im Hintergrund, so dass die Überwachungskamera sie nicht im Blick haben konnte. Surrend schwenkte sie herum.
Milo betätigte die Gegensprechanlage und fragte: "Mister John Garcia?"
"Was wollen Sie?", kam die launige Antwort aus dem Lautsprecher.
"Hier spricht das FBI. Machen Sie bitte die Tür auf!"
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
In der Sprechanlage knackte es.
Instinktiv wanderte meine Hand in Richtung der SIG an meinem Gürtel.
Im nächsten Moment knatterte auf der anderen Seite der Tür eine Maschinenpistole los.
Die Projektile rissen fingerkuppengroße Löcher in das edle Holz.
Milo und ich tauchten zur Seite, pressten uns gegen die Wand.
Das Trommelfeuer ebbte kurz ab, dann folgte eine weitere Garbe.
Jacky Tasso alias John Garcia schien uns deutlich klarmachen zu wollen, dass er im Moment nicht mit uns reden wollte.
Wir warteten ab, bis das Feuer eingestellt wurde.
"Tasso!", rief ich. "Oder Garcia! Ganz wie Sie wollen! Sie haben keine Chance, das Gonzales Building zu verlassen!"
Von der anderen Seite kam keine Antwort. Ein paar Geräusche drangen an unsere Ohren. Schritte.
Jay Kronburg hatte seinen 4.57er Magnum Revolver gezogen. Eine Waffe, die er seit seiner Zeit bei der City Police benutzte und nie gegen die ansonsten beim FBI übliche SIG Sauer P 226 eingetauscht hatte.
"Lasst mich das mal machen!", forderte er.
Er trat vorsichtig an die Tür heran. Er riskierte Kopf und Kragen dabei.
Mit einem gezielten Schuss sprengte er das Schloss auf.
Mit einer so großkalibrigen Waffe wie dem 4.57er Magnum Revolver war das kein Problem.
Ich schnellte hinzu, ließ die Tür mit einem wuchtigen Tritt zur Seite fliegen.
Die SIG umfasste ich mit beiden Händen, bereit dazu, jederzeit zu feuern.
Aber es war niemand zu sehen.
Ich stürmte vorwärts. Mitten durch den kleinen Vorraum mit Garderobe. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Ich stürzte hinein, die SIG im Anschlag.
Eine ziemlich abgegessene Schale mit Chips stand auf dem Tisch. Außerdem waren dort drei Dosen Budweiser abgestellt worden.
Wir hatten es also mit drei Personen zu tun.
Tasso selbst und zwei seiner Gorillas, so nahm ich an.
Leslie Morell nahm sich das Bad vor, stieß die Tür auf, sah sich mit der Waffe in der Hand um.
Milo und ich hatten inzwischen das Wohnzimmer durchquert.
Milo trat eine halb offenstehende Tür zur Seite, die in einen weiteren Raum führte. Ich eilte hinterher. Das Erste, was mir auffiel, war der gewaltige, überdimensionale Flachbildschirm. Eine zumindest vom Umfang her beachtliche DVD-Sammlung füllte mehrere Regalmeter. Hauptsächlich Pornos, wie die Titel verrieten.
Milo nahm die Waffe herunter, atmete tief durch.
"Die Kerle können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!", knurrte er.
Eine Terrassentür führte hinaus in einen Dachgarten, von dem aus man sicherlich einen hervorragenden Ausblick hatte. Es gab sogar einen Helikopter-Landeplatz, kreisrund aus dem englisch gestutzten Rasen herausgeschnitten und mit Asphalt bedeckt.
Milo und ich wechselten einen kurzen Blick.
Ich erriet seinen Gedanken.
"Wenn hier ein Heli gelandet wäre, hätten wir das mitbekommen."
"Bist du sicher? Die Scheiben dürften dreifachverglast und sehr schallisolierend sein."
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Nein, wir haben irgendetwas übersehen, Milo."
Jay Kronburg kam auf uns zu. Er hielt eine Broschüre in der Hand, hielt sie mir hin.
"Hast du gewusst, dass Jacky Tasso religiös ist, Jesse?"
"Wieso?"
"Na, sieh dir das mal an!"
Ich nahm die Broschüre, steckte vorher die SIG weg und blätterte das Heftchen flüchtig durch. "Die Worte des Heiligen John Nathanael Broxon", las ich die Überschrift, zuckte die Schultern. "Tasso wäre nicht der erste Kriminelle, der sich gewissermaßen spirituell gegen eine allzu harte Behandlung vor dem jüngsten Gericht abzusichern versucht. Die Paten von Little Italy sind doch alles brave Kirchgänger, aber das hindert keinen von ihnen daran, zwischendurch ein paar Gegner auszuknippsen."
"Religiös und religiös ist nicht dasselbe!", meinte Jay mit skeptischem Gesicht.
Ich hob die Augenbrauen.
"Was meinst du damit?"
"Ich habe von dieser KIRCHE DER WAHREN HEILIGEN schon gehört", berichtete Jay. "Die blockieren Abtreibungskliniken und versuchen zu verhindern, dass Patientinnen und Ärzte hineingelangen!"
Milo grinste. "Nach allem, was wir über Jacky Tasso wissen, kann ich mir kaum vorstellen, dass er sich tiefergehende Gedanken über so etwas wie Abtreibungen oder Religion macht..."
"Deine Menschenkenntnis scheint nachzulassen, Milo", erwiderte ich.
DAS GEBET HILFT!, hieß eine andere Überschrift, darunter das Gesicht des wahren Heiligen namens John Nathanael Broxon. Sein Zeigefinger war auf den Leser gerichtet, seine Augen wirkten stechend. Broxon musste ein Mann sein, dem ein gewisses Charisma nicht abzusprechen war.
Aber da war noch etwas anderes, was mich stutzen ließ.
Jemand hatte mit Kugelschreiber eine Nummer auf das Papier gekritzelt.
Eine New Yorker Telefonnummer
Leslie