Harte Reden. Fritz Binde
Kopf zu stellen. Man redet mit aller Dreistigkeit vom „Verfall des Christentums“ und von der Hoffnungslosigkeit des Christenglaubens. Gläubiger Christ sein oder werden sei etwas ganz Hoffnungsloses, sei nichts als Ignoranz und Resignation, öde Unwissenheit und armseliger Verzicht. Diese Meinung ist dank der sogenannten Aufklärungsschriften so verbreitet, dass der gewöhnliche Kulturmensch den bibelgläubigen Christen bereits als ein Kuriosum, als etwas Absonderliches betrachtet, das er sowohl bedauert als verachtet. Bedauert wird der Gläubige, weil man ihm ohne weiteres das „intellektuelle Defizit“, den Mangel an Verstand, anhängt, ein Zurückgebliebener, ein Dummer!
Und verachtet wird der Gläubige, weil man ihm ebenso schnell das „moralische Defizit“, den Mangel an Ehrlichkeit, anhängt, ein Heuchler, ein Schuft! Beide Erklärungsweisen genügen dem Unglauben, um die Hoffnungslosigkeit des Christenglaubens zu betonen. Rückt aber der Ernst und die Notwendigkeit des Christwerdens dennoch einmal näher, so ist man schnell bereit, das Christwerden als etwas Hoffnungsloses abzuweisen, weil es, wie die jungen Leute gerne sagen, alle Lebensfreude zerstöre oder die geschäftliche Tüchtigkeit untergrabe und am Fortkommen hindere, also den Schritt hinein in die nackte Hoffnungslosigkeit bedeute. Und doch bleibt es bei dem Apostelwort. Nicht der Christ ist der Hoffnungslose, sondern der Nichtchrist.
Ich möchte aber nicht ins Blaue hineinreden und bloße Behauptungen aufstellen, sondern, was gesagt werden muss auch zu beweisen suchen.
Was heißt denn „hoffnungslos“? Nun, ich denke: antwortlos, aussichtslos, zukunftslos.
Ist das denn der Zustand des Nichtchristen? Gibt der Ungläubige nicht an, die ganze Wissenschaft für sich zu haben, die seinem Verstande doch so zahlreiche Antworten gibt, und er soll antwortlos sein? Haben ihm Wissen und allgemeine Kultur nicht geradezu leuchtende und großartige Aussichten eröffnet, und er soll aussichtslos dastehen? Und garantiert ihm die fortschreitende menschliche Erkenntnis nicht jede Zukunft, und er soll zukunftslos sein? Berechtigt nicht das bisher Errungene zu den schönsten Hoffnungen, und der so reich ausgerüstete Unglaube soll hoffnungslos sein?
Nun, wir wollen sehen.
Drei große Menschheitsfragen gibt es, vor denen jede sogenannte Weltanschauung sich zu erproben hat. Es sind die Fragen nach dem Woher? Wozu? und Wohin? unseres Geschlechts. Vor diesen drei inhaltsschweren, unabweisbaren Fragen zeigt es sich, wie weit eine Weltanschauung antwortfähig und damit hoffnungsvoll oder antwortlos und damit hoffnungslos ist.
Die Frage nach dem Woher? der Menschheit scheint ja das ungläubige Denken von heute ganz besonders ernstlich beschäftigt zu haben. Den biblischen Schöpfungsbericht hat man als „unwissenschaftlichen“ Mythos überlegen beiseite gelegt. Himmel, Erde und Mensch aus dem Worte und der Hand des persönlichen Gottes hervorgegangen, wird als unglaubliches Märchen belächelt. Man will eine bessere Antwort, als die, die Gott heißt. Man will Wirklichkeit. So hat man den einzig wirklichen Gott als etwas „Unwissenschaftliches“, das das menschliche Denken nimmermehr befriedigen kann, bei der Beantwortung der Frage nach dem Woher? streng methodisch ausgeschaltet und eine vernünftigere Antwort gesucht. Und man gibt an, die richtigere, ja, die einzig richtige Antwort gefunden zu haben. Wie lautet sie denn?
Ich stehe gerne vor den Schaufensterauslagen der Buchhandlungen still. Das Denken unserer Zeit mit seinen Fragen und Antworten spiegelt sich da ab. So las ich da einmal als Titel eines ausliegenden Buches: „Vom Nebelfleck zum Menschen“. Aha, dachte ich, da hat wieder einer die Frage nach dem Woher? unseres Geschlechts modern naturwissenschaftlich zu beantworten versucht. Und ich brauchte mir das Buch gar nicht erst zu kaufen, um mir die darin gegebene Antwort anzueignen, befanden sich doch bereits mehr als genug Bücher dieses populärnaturwissenschaftlichen Schlages mit ihren großtönenden Titeln in meinem Besitz. Großtönender aber hatte ich noch keinen gelesen. Das war wirklich etwas Großzügiges und Umfassendes. Nicht nur etwa: „Vom höheren Affen zum Menschen“ oder: „Vom Wirbeltier zum Menschen“ oder: „Von der Monere1 zum Menschen“ oder: „Vom feurigen Erdball zum Menschen“ oder: „Von der glühenden Sonnenkugel zum Menschen“, nein, hier sollte ganze Arbeit getan, hier sollte das äußerste enthüllt und gesagt werden, also: „Vom Nebelfleck zum Menschen“.
Lange stand ich still und sann: Wissbegierige Menschheit, frohlocke! Du bist weiter vorgedrungen als bis zum Nord- oder Südpol deiner Erde. Preise deine Sternwarten und Riesenteleskope; denn sie haben dich nun den Anfang aller Dinge schauen lassen: den Nebelfleck. Großartige Sammlung und Vereinfachung aller weltlichen Herkünfte und Bezüge; denn alles gipfelt im Nebelfleck! Uralt ewige Frage, über die so manche Häupter gegrübelt, Häupter im Turban und im schwarzen Barett, du hast deine zwar nicht nahe liegende, auch nicht sehr hell einleuchtende, aber desto gewaltigere und großartigere Lösung gefunden; sie heißt: Der Nebelfleck! Rätsel des Lebens und des Todes, Rätsel der Welt, der Mensch ist dir nachgegangen bis zum fernsten Mutterschoß, bis zum Nebelfleck! Lebendiger, allmächtiger Gott, und dennoch wissenschaftlich auf Erden vernichtet, nun bist du bei den aufgeklärten Menschen eine geringwertigere Rarität geworden, als jede vorzeitliche Postkutsche; denn an Stelle deiner illusorischen Existenz ist getreten die reale Ausdehnung des Nebelflecks!
Wird mich jetzt wieder ein Mensch fragen: Woher denn nun dies alles? Wo ist die Heimat? Wo liegt der hohe Pol? So werde ich geradenwegs ins Blaue oder Graue hinaufweisen, und werde mit wissenschaftlicher Betonung antworten: Im Nebelfleck! – So ungefähr sann ich. Und dann dachte ich weiter, wie viele Hunderte, ja vielleicht Tausende von deutschen Jünglingen und Jungfrauen wissbegierig dies Buch kaufen und lesen und danach den Gott ihrer Väter und Mütter tatsächlich aus ihrem Denken und Leben streichen und an seine Stelle tatsächlich diese letzte Station des Sichtbaren, den Nebelfleck, setzen werden. Welche zeitgemäße Bereicherung des Denkens, welche solidere Fundamentierung des Daseins wird das geben!
Wahrlich, ich treibe nicht Scherz hier; aber das Lächerliche bleibe lächerlich unter uns, damit es als Lächerlichkeit getötet werde. Auch denke ich gar nicht daran, hier Weltentstehungshypothesen kritisieren zu wollen, das liegt ganz außerhalb meines Könnens, aber wenn denkende Menschen die brennend ernste Frage nach dem Woher? des Menschen und seiner Welt mit dem Hinweis auf die Existenz glühender kosmischer Nebelhaufen erledigen wollen, dann muss man sagen: Ihr schreibt euch nichts anderes als das Zeugnis eurer Hoffnungslosigkeit!
Denn es mögen Menschen fortfahren, die sichtbare Schöpfung in ihrer Einzel- und in ihrer Gesamterscheinung, in ihren Nah- und in ihren Fernvorgängen zu beobachten und die Ergebnisse ihrer Beobachtung als „Wissenschaft“ zu bezeichnen, sie mögen von glühenden Nebelflecken im fernsten Weltraum oder von Elektronenvorgängen im Atom berichten, das eigentliche Woher? der Nah- oder Fernvorgänge, der Einzel- oder Gesamterscheinung vermögen sie durch solche Beobachtung nie zu beantworten. Ihre Erklärung bleibt Beschreibung des sinnlich Wahrnehmbaren; aber ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist. Hoffnungslos bleibt daher jeder Versuch, die Frage nach dem Woher? des Menschen und seiner Welt auf naturwissenschaftlichem Wege beantworten zu wollen. Möge sich die menschliche Wahrnehmung durch den Gebrauch der sinnvollsten Instrumente und Apparate verschärfen und bereichern, sie wird dadurch nie ohne weiteres das Woher? ersehen, ertasten oder ermessen und registrieren können.
Mithin bleibt jede „Weltanschauung“, die die Beantwortung der Frage nach dem Woher? unter Beiseitesetzung der Offenbarung, die Gott in der Bibel gegeben hat, erzwingen will, hoffnungslos. Ihre Antworten sind keine Antwort. Der wirklich denkende Mensch wird sich nie mit den gottlosen Armseligkeiten einer monistischen Dogmatik abspeisen lassen, die den wahrgenommenen Stoffen und Kräften und dem ihnen innewohnenden „Naturgesetz“ einfach Allmacht und Ewigkeit zuspricht und sie an die Stelle des persönlichen Gottes setzt. Ebenso wenig lässt sich der wirklich denkende Mensch die Frage nach dem Woher? verbieten. Sagt man doch, es sei menschlich beschränkt, anmaßend und durchaus „unwissenschaftlich“ so zu fragen; der kleine Mensch müsse sich am sinnlich Erforschbaren genügen lassen und vor dem großen Unerforschlichen verstummen. Ja, wenn das Fragen nach dem Woher? nicht gerade unsere menschliche Natur ausmachte! Aber es gehört zu unserem natürlichsten Bestand und ist geradezu das unterscheidende Merkmal zwischen Mensch und Tier; denn das Tier kennt keine Frage nach seinem Schöpfer. Und was heißt denn schließlich „wissenschaftlich“? Doch nichts anderes,