Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach
fand, mit dem er einen Teil seines Schreibtisches säuberte, damit Jonathan die Kaffeebecher abstellen konnte.
„Billy, mein Junge, du siehst großartig aus. Ich störe doch hoffentlich nicht? Und zu deiner Frage: Noch arbeite ich im Justizministerium. Aber du weißt ja, wie schnell man in der Politik seinen Job loswerden kann.“
William wirkte auf Jonathan wie ein verunsichertes Raubtier, das eine Gefahr ahnte, aber noch nicht wusste, von woher sie drohte. Sie waren sich seit Monaten nicht mehr persönlich begegnet. Der äußeren Erscheinung nach zu urteilen, ging es seinem Jungen alles andere als großartig.
„Ich sehe großartig aus? Deine Witze waren früher besser. Agent W hat sich abgemeldet, hat seine Mom im Stich gelassen und seinen Mentor Jonathan enttäuscht. Mir geht es verflucht noch mal verdammt großartig!“ William trank einen Schluck Kaffee und wischte sich danach mit dem Handrücken die Lippen trocken.
„Jon, nimm Platz. Sorry, ich bin zurzeit wirklich nicht gut drauf, habe nicht aufgeräumt, die Heizung im Haus funktioniert nicht und die Klimaanlage hat im vergangenen Sommer ihren Geist aufgegeben. Warum musst du ausgerechnet heute kommen?“
William nahm schlürfend einen weiteren Schluck aus dem Kaffeebecher und musterte Jonathan. Wie fremd ihm dieser Mann mittlerweile geworden war. Vor ihm saß ein geschmackvoll gekleideter Afroamerikaner von mittlerer Statur mit ergrautem, kurz geschnittenem Lockenhaar, der ihn durch eine markante Hornbrille ebenfalls beobachtete. Am linken Handgelenk trug Jonathan ein Oakley-Titanium-Pilotenchronometer. Vincent LaRouche, Williams Vater, hatte eine Uhr derselben exklusiven Sonderserie besessen, aber sie war zusammen mit ihm im kambodschanischen Dschungel verschwunden. William hatte seine eigene Oakley Titanium, das inoffizielle Erkennungszeichen aktiver und ehemaliger FBI-Agenten, zusammen mit ein paar weiteren Erinnerungen an seine Dienstzeit in eine Pappschachtel unter sein Bett verbannt. Er wollte nichts mehr mit dem FBI zu schaffen haben und sich schon gar nicht mit einer Oakley Titanium brandmarken. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Für einen kurzen Moment kam es William so vor, als habe er in Jons Augen etwas Geschäftsmäßiges entdeckt. Er vermisste die Wärme, die verlässlich in diesen Augen gelegen hatte, als Jon sich nach Vincent LaRouches Verschwinden um dessen Sohn gekümmert und versucht hatte, Doris vom Alkohol wegzuholen. William wandte sich ab und sah, wie im Hinterhof die ersten Strahlen der Vormittagssonne auf dem glitzernden Morgentau der kahlen Zweige des Kirschbaums tanzten. Es würde ein schöner, kalter Herbsttag werden, dachte er und wärmte seine Hände an dem Kaffeebecher.
„William, seit wann lassen Louisiana-Boys ihre Familien im Stich? Warum besuchst du deine Mom nicht? Doris braucht dich“, sagte Jonathan vorwurfsvoll und legte seine Hand auf Williams Schulter.
„Es hat keinen Sinn. Nicht jetzt. Ich stecke noch immer im Sumpf fest … Mom soll nicht mitbekommen, wie dreckig es mir geht.“
Jonathan hatte sich erhoben und stand am Fenster zur Park Avenue, auf der ein böiger Wind die braun-orangenen Blätter der Kastanienbäume aufwirbelte und vor sich hertrieb.
„Warum bist du hier? Was willst du von mir?“
„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
„Ein Auftrag?“
Jonathan wandte sich wieder William zu und faltete bedächtig die Hände.
„So könnte man es wohl nennen. Wir brauchen deine Hilfe.“
„Wir?“
„Ja. Die Justizministerin und ich.“
„Jon, ich arbeite nicht mehr für das FBI und auch nicht für das Justizministerium. Niemals und unter keinen Umständen. Tut mir leid, ich kann es nicht.“
5
„Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir das Gespräch aufzeichnen und mein Kollege ein paar Fotos schießt?“
Rangrit, der Reporter der Bangkok Post, sah Jürg Bertoli fragend an. Eine junge Thai huschte auf die schattige Veranda und stellte ein Tablett mit Gläsern und einer Karaffe Obstsaft auf einen Tisch, um den herum bequeme Korbsessel gruppiert waren. Es war noch keine elf Uhr. Die heißesten Stunden des Tages standen noch bevor, und doch hatten die Ventilatoren schon jetzt Mühe, den Hauch einer Luftzirkulation zu entwickeln, damit es im Freien erträglich blieb.
„Wir bedienen uns dann selbst“, bedankte sich Bertoli bei seiner Mitarbeiterin und bat die Journalisten, Platz zu nehmen. „Selbstverständlich können Sie fotografieren.“
„Dr. Bertoli, unsere Leser sind an Ihrer Persönlichkeit und der sozialen Arbeit interessiert, die Sie seit geraumer Zeit in Bangkok leisten“, begann der Thailänder auf Englisch. „Sie gründeten Ihre Einrichtung Baan Jai Dii vor acht Jahren. Erklären Sie unseren Lesern, was Ihr Anliegen ist.“
„Gerne! Dafür erlaube ich mir einen Ausflug in die Vergangenheit. Wie Sie vielleicht wissen, halten wir uns hier in einem der ältesten Gebäude Bangkoks auf. Auf den Grundmauern stand einst das Anwesen des Leibarztes von König Taksin, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Hauptstadt des siamesischen Reiches von Ayutthaya in das flussabwärts gelegene Fischerdorf Thonburi, einem heutigen Stadtteil Bangkoks, verlegt hatte …“ Bertoli unterbrach für einen Moment und schmunzelte. „Leider wurde König Taksin größenwahnsinnig. Auch sein Leibarzt wusste kein Rezept gegen diese Krankheit. Der Adel befreite sich von dem Despoten, Taksin wurde hingerichtet und der Thron fiel an den ersten Rama, den Begründer der Chakri-Dynastie, der auch unser jetziger König Bhumibol als mittlerweile neunter Rama angehört.“
„Was wurde aus dem Leibarzt, wurde er auch getötet?“, wollte Rangrit wissen.
„Nein. Rama der Erste verlegte den königlichen Palast als Zeichen des Neubeginns auf das gegenüberliegende Ostufer des Chao Phraya in die Nähe der Chinesensiedlung Bang Kok. Der neue Herrscher übernahm den Leibarzt seines Vorgängers, und der im ganzen Reich anerkannte Mediziner ließ seinen ehemaligen Wohnsitz zu einem öffentlichen Hospital umbauen. Er nannte es Baan Jai Dii, das Haus des Guten Herzens.“ Der Reporter der Bangkok Post machte sich konzentriert Notizen.
„Unsere Arbeit steht in der Tradition dieses historischen Baan Jai Dii. Wir bemühen uns, alleinstehenden, alten Menschen zu helfen und sie mit ganzem Herzen bis in ihre letzte Stunde zu begleiten“, erläuterte Jürg Bertoli und erhielt Rangrits Bestätigung. „Die moderne Lebensweise treibt die jungen Menschen aus den Dörfern in die Städte. Die Großfamilien lösen sich auf und die Alten können nicht mehr so versorgt werden, wie es unserer Tradition und unserem buddhistischen Glauben entspricht.“
„Die staatlichen Sozialsysteme sind in Asien, wenn überhaupt, auf einem niedrigen Niveau vorhanden. Wenn die Familienverbände nicht mehr funktionieren, stellt das ein ernstes Problem dar. Wir helfen, wo wir können. Unsere Kapazitäten sind allerdings begrenzt, so dass nicht jeder einen Platz in unserer Mitte findet. Aber ist es nicht so, dass auch der engagierteste Helfer den Erfolg seiner Arbeit gefährdet, wenn die Sentimentalität die Sachlichkeit verdrängt?“, gab Bertoli zu bedenken und goss frisch gepressten Ananassaft in die Gläser. Ein dunkelblond gelockter Junge in einem Matrosenanzug näherte sich der Runde.
„Na, du Lauser!“ Bertoli winkte den vielleicht Fünfjährigen heran, der daraufhin auf den Schoß des Heimleiters kletterte.
„Das ist Tap, mein Sohn“, stellte Bertoli den kleinen Burschen vor, „Tap, das sind zwei Reporter von einer berühmten Zeitung aus Bangkok, die über unser Haus berichten wollen.“
„Lung Moo, macht der Mann mit der Kamera auch von mir ein Foto?“
„Wenn du ihn nett bittest, ganz bestimmt.“
„Lung Moo? Sie sagten doch, er sei ihr Sohn“, wollte der Fotograf grinsend wissen.
„Es ist ein Spiel. Nur Tap nennt mich Onkel Doktor. Unsere Gäste sind deutlich älter als ich und würden mich wohl kaum als Onkel bezeichnen wollen. Wo waren wir stehengeblieben?“
„Bei den eingeschränkten Kapazitäten. Gibt es Kriterien, nach denen Sie entscheiden, wen