Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach

Bangkok Rhapsody - Thomas Einsingbach


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ist.“

      „Ein reiner Zufall entscheidet?“

      „Nennen Sie mir eine Alternative, die unser Gewissen weniger belastet.“

      In diesem Augenblick rumpelten zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Von mehreren Pflegerinnen begleitet, schleppten sie eine silbergraue Blechkiste durch die Eingangshalle zum Hinterhof, in dem ein Lieferwagen wartete.

      „Sehen Sie“, Bertoli deutete auf die Gruppe, „es ist wieder ein Platz frei geworden. Die alte Wannapum hat uns gestern Nacht verlassen. Sie ist mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben und hat die Reise in ihr nächstes Leben mit Zuversicht angetreten.“

      Die beiden Reporter wirkten sichtlich berührt. Der eine sortierte verlegen seine Unterlagen, der andere schraubte am Verschluss seiner Kamera herum.

      „Dr. Bertoli, seit geraumer Zeit kursieren Gerüchte, dass es in Ihrer Einrichtung einen deutlichen Anstieg der Todesfälle gegeben hat.“

      Bertoli lächelte. „Nun, Sie sind jung und haben hoffentlich noch ein langes, glückliches Leben vor sich. Im Baan Jai Dii ist dagegen der Tod unser ständiger Begleiter. Aber ist das bei einhundertfünfzig Gästen mit einem Durchschnittsalter von fünfundsiebzig Jahren nicht ein ganz natürlicher, biologischer Vorgang?“

      „Da haben Sie vermutlich recht. Bitte verzeihen Sie auch die nächste Frage. Sie nehmen in erster Linie mittellose, alleinstehende Menschen in Ihrem Altenheim auf. Verraten Sie unseren Lesern, wie sich ein derartiges Projekt finanziert?“

      Bertoli hob die Hände und seufzte: „Ja, das liebe Geld. Bei uns ist es immer knapp. Wir leben hauptsächlich von Spenden. Es gibt in Bangkok einige wohlhabende Gönner, die uns unterstützen. Dazu kommen gelegentlich Zuwendungen aus Quellen, zu denen ich noch aus meiner früheren Zeit Kontakte habe.“

      „Stimmen meine Informationen, dass Sie, bevor Sie nach Thailand kamen, ein leitender Manager in einem Schweizer Pharmakonzern gewesen sind?“

      „Schön wär’s.“ Bertoli schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Wie kommen Sie denn darauf? Richtig ist, dass ich vor vielen Jahren in der Schweiz, in Basel, in einer Aids-Beratungsstelle mitgearbeitet habe. Das Projekt wurde von einem dort ansässigen Pharmakonzern unterstützt.“

      Rangrit schlug die nächste Seite seines Spiralblocks auf. Bertoli konnte nicht entziffern, was dort notiert war, erkannte aber ein großes Fragezeichen auf dem unteren Teil des Blattes.

      „Dr. Bertoli, wenn meine Recherchen korrekt sind, wurden Sie in Italien geboren, haben in Südafrika und England studiert und in Deutschland und Südamerika gearbeitet. Sie besitzen die Schweizer Staatsangehörigkeit. Weshalb hat sich ein Weltbürger wie Sie für ein Leben in Bangkok entschieden?“

      „Alles korrekt. Sie sind ein bemerkenswerter Journalist“, lobte Bertoli. „Ich bin als Tourist gekommen und war von der reinigenden Kraft tropischer Regengüsse überwältigt.“

      Rangrit schaute ein wenig irritiert. „Sie sind wegen der Regenfälle geblieben?“

      „Zunächst einmal ja“, bestätigte Bertoli, „aber schon bald hatte ich mich in Thailand verliebt, in seine Menschen, in deren Zuversicht und Gelassenheit. Ich war beeindruckt von ihrer kindlichen Freude an den kleinen Dingen des Lebens und ihrem Vertrauen auf eine Wiedergeburt nach dem Tod. Mit einem solchen Glauben lassen sich die Wirren des Lebens entspannter ertragen. Und ich staune immer wieder über die ungeheure Kreativität der thailändischen Küche, hinter der selbst die Kunst der Köche meiner Heimat Italien verblasst.“

      „Ja, das Essen ist bei uns Thais tatsächlich eine sehr wichtige Angelegenheit.“ Rangrit blickte amüsiert zu seinem Kollegen. „Entschuldigen Sie meine direkte Frage. Sind Sie Buddhist oder Christ?“

      Bertoli wiegte sein Haupt mit der ergrauten Haarpracht, die eine Spur heller erschien als sein gemütlicher Vollbart. In passender farblicher Ergänzung dazu standen die graublauen Augen, mit denen er nun den Journalisten ernst anblickte. „Sagen wir es einmal so: Ich bin ein Mensch, der liebt, der hasst, der vergisst und sich erinnert, der Gutes tut, der Unrecht begeht. Und ich hoffe, dass ich mein Leben, mit wessen Hilfe auch immer, einigermaßen im Gleichgewicht dieser Gegensätze führe.“

      Rangrit nickte zustimmend.

      „Ich bin überzeugt, diese Lebensphilosophie wird vielen unserer Leser gefallen. Doktor, ich denke, das genügt. Sie hatten uns noch einen Rundgang durch Ihre Einrichtung versprochen.“

      „Selbstverständlich!“ Bertoli erhob sich. „Zuerst möchte ich Ihnen das historische Gebäude mit den Gemeinschaftsräumen zeigen, dann die jüngeren Anbauten mit den Gästezimmern, die sich an den Hof anschließen. Unseren chinesischen Pavillon am Kanal können wir heute leider nicht besichtigen. Wegen einer Ungezieferplage wird dort seit ein paar Tagen gründlich desinfiziert.“

      Rangrit beugte sich nach vorne, um das Tonbandgerät auszuschalten, dabei rutschten ihm seine gesammelten Unterlagen von den Knien und glitten zu Boden. Eine Pressemitteilung mit einem Foto kam zum Vorschein. Die Abbildung zeigte einen Kran, der einen Sportwagen aus einem Gewässer zog. Bertoli hob den alten Zeitungsausschnitt auf.

      „Gehört das auch zu Ihrer Reportage über das Baan Jai Dii?“, wollte er mit einem neugierigen Blick wissen.

      „Nein, nein. Das ist eine ganz andere Geschichte.“ Der Journalist entschuldigte sich mehrmals und klaubte seine Papiere zusammen. „Sie wissen doch, eine Zeitung muss auch immer eine gewisse Portion Sex und Crime bringen. Vor ein paar Monaten wurde im Industriehafen ein schwarzer Porsche entdeckt, ohne Nummernschilder und mit entfernter Fahrgestellnummer. Im Wagen fand man Teile einer weiblichen Leiche. Allem Anschein nach eine Ausländerin, von Aalen und Muränen zerfressen. Das Mysteriöse daran ist, dass kein Mensch die Frau und den teuren Sportwagen vermisst. Auch die Polizei hat keine Anhaltspunkte. Wir nehmen uns der Sache immer mal wieder an. Vielleicht hilft uns der Zufall“, erläuterte der junge Mann.

      „Dann drücke ich Ihnen die Daumen!“, gab Jürg Bertoli aufmunternd zurück und schritt durch die Empfangshalle des Altenheims. Rangrit bemerkte dabei, dass der Hausherr beim Gehen sein rechtes Bein nachzog. Aufgeregt stürmte eine junge Pflegerin auf den Direktor des Altenheims zu. „Khun Jürg! Khun Jürg! Surang ist schon wieder verschwunden. In dieser Woche ist das nun schon das dritte Mal.“

      „Entschuldigen Sie, meine Herren. Es handelt sich selbstverständlich nicht um einen Gast unserer Einrichtung. Es geht um ein gelegentlich verwirrtes Mitglied unseres Küchenpersonals“, erläuterte Bertoli den Journalisten, dann wandte er sich wieder seiner Angestellten zu. „Surang wird in Wittipongs Kneipe am Kanal sein. Ihr wisst doch, dass sie bei Vollmond nur Ruhe findet, wenn sie am Wasser sitzt und Karten legt. Holt sie ab und richtet dem Gauner aus, wenn er Surang noch einmal Alkohol gibt, bringe ich ihn um.“

      Bertoli zwinkerte den beiden Reportern zu. „Das sind unsere kleinen Alltagsprobleme. In der Regel nichts Dramatisches. Alles mit Geduld und Verständnis lösbar.“

      Kurz nachdem Jonathan gegangen war, verließ auch William sein Apartment und trat auf die Park Avenue hinaus. Der Frühnebel hatte sich verzogen und die Vormittagssonne stand halbhoch am wolkenlosen Himmel über Hoboken. Ein scharfer Ostwind pfiff William entgegen. Es roch bereits nach Winter, und er zog den Kragen seines Mantels enger. Mit zügigem Schritt erreichte er die nach Frank Sinatra, dem berühmtesten Sohn Hobokens, benannte Parkanlage am Hudson River und suchte sich ein sonniges Plätzchen im Windschatten einer stattlichen Roteiche, unweit der Uferlinie. Silberne Schaumkrönchen tanzten auf den bewegten Fluten und steife Windböen trugen den salzigen Atlantikgeruch aus der Lower Bay heran.

      William hatte sich während seiner Ausbildung an der FBI-Akademie leidenschaftlich für die Psychologievorlesungen interessiert. Damals war ihm bewusst geworden, dass ihm als kleiner Junge nur zwei Wege geblieben waren, um den Verlust seines Vaters wenigstens einigermaßen zu verwinden. Der erste Pfad versprach dem verunsicherten Billy seelischen Trost über eine lebenslange Wut auf den Mann, der ihn im Stich gelassen


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