Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach

Bangkok Rhapsody - Thomas Einsingbach


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verschwundenen Vaters an: Vincent LaRouche als die ewig junge Lichtgestalt ohne Fehl und Tadel. Weil sich alle Welt offenbar auf die zweite Variante eingeschworen hatte, schloss sich auch der kleine Billy dieser Betrachtungsweise an. Sein Vater war von nun an Superagent Vincent LaRouche, der jede Frage beantworten, jedes Problem lösen konnte und der die Ideale Amerikas auch unter den widrigsten Umständen an den finstersten Ecken der Welt verteidigte. Je klarer William in späteren Jahren dieses Trugbild durchschaute, desto größer wurde die Sehnsucht nach einem authentischen Vater, einem Menschen aus Fleisch und Blut.

      Williams Blick strich über die Skyline von Manhattan, die scheinbar zum Greifen nahe vor ihm lag: das Empire State Building, ohne das New York nicht New York wäre, die verdichtete Hochhausarchitektur von Midtown und Lower Manhattan und schließlich das One World Trade Center im Financial District, die neue Ikone der Mutter aller Metropolen. Das verschraubt-eigenwillige, höchste Gebäude Amerikas, errichtet auf Ground Zero, war New Yorks Antwort auf die Tragödie des 11. Septembers 2001 – die dunkelste Stunde in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Nur wenige Wochen nach diesem Ereignis hatte sich William für den FBI-Auslandsdienst verpflichtet.

      William hatte Jonathan schon eine Weile entdeckt und beobachtete nun, wie der Afroamerikaner den Kragen seines hellbraunen Kaschmirmantels aufschlug und an der Uferpromenade einen Schwarm wilder Stockenten fütterte. William zündete sich eine Lucky Strike an und blies den würzigen Tabakqualm in die kalte Spätherbstluft. Als Jonathan seinen Futtervorrat verteilt hatte, blickte er auf und steuerte langsam auf William zu.

      „Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?“, begann Jonathan, als er neben William in der Mittagssonne Platz genommen hatte.

      „Wie lautet der Auftrag, für den ihr meine Hilfe braucht und für den du extra von Washington gekommen bist?“ William ließ die die kaum halb aufgerauchte Zigarette auf den Kiesboden fallen und trat die Glut aus.

      „Du willst nicht für das FBI arbeiten. Kein Problem, du arbeitest für mich. Keine einfache Sache, aber du bist der richtige Mann dafür.“

      „Mein Gott, Jonathan, ich bin seit drei Jahren aus dem Geschäft. Ich liefere Ehemänner ans Messer. Jämmerliche Gestalten, die ihre Frauen mit anderen Frauen betrügen, die wiederum auch ihre Männer hintergehen. Ich fange entlaufene Pudel und Kanarienvögel ein. Schau mich an, ich bin alt und dick geworden.“

      Jonathan spürte die Unruhe in William, der mit fahrigen Bewegungen eine weitere Zigarette aus der Packung fingerte. Doch das Nikotin, das er mit kurzen Zügen inhalierte, trug nicht zur Beruhigung bei. William wusste, wie nervös und verunsichert er auf Jonathan wirken musste.

      „Du wirst Amerika allerdings für eine gewisse Zeit verlassen müssen. Das wäre die Kröte, die du schlucken müsstest“, blieb Jonathan unbeirrt.

      „Vergiss es! Ich habe damals meinen Dienst beim FBI quittiert, weil ich das Krötenschlucken satthatte. Keine Kröten mehr. Niemals!“, unterbrach William und verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Der Einsatz findet in Bangkok statt. Je schneller du fertig bist, desto schneller bist du wieder zu Hause.“

      „Thailand! Bangkok! Ausgerechnet! Sorry, das geht gar nicht.“

      „Du hast dich in den letzten Jahren sehr verändert. Ganz offensichtlich ist einiges in deinem Leben in Unordnung. Du hast mir nie erzählt, warum du das FBI verlassen hast. Schade. Ich wäre allerdings ein wenig beruhigter, wenn ich wüsste, dass du einen Menschen hast, dem du dein Herz ausschütten kannst.“

      William schwieg beharrlich und verfolgte mit seinem Blick einen Jogger, der seine Runden drehte und auch an ihrer Parkbank vorbeikeuchte. Er hatte das FBI vor drei Jahren verlassen, weil er gehofft hatte, mit diesem Schritt seine Seele retten zu können. Aber was war seither mit ihm geschehen? Warum hatte er noch immer keine Ruhe gefunden? Warum konnte er noch immer nicht über die Erlebnisse während seines letzten FBI-Einsatzes in Thailand sprechen? Nicht einmal mit Jonathan. Sollte er tatsächlich nach Südostasien zurückkehren, wo er damals in die Abgründe seiner Seele geblickt hatte? William schloss die Augen in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Wie hätte sein Dad dieses Gefühlschaos aufgelöst? Kaum hatte sich William diese Frage gestellt, sah er vor seinem inneren Auge seinen Vater mit wehendem blonden Haarschopf. Auch Special Agent Vincent LaRouche schien ratlos zu sein. Glücklicherweise schob sich nun ein anderes virtuelles Bild über das der väterlichen Ikone. Ein dunkelhäutiger Mann wandte sich ihm zu. Es war Jonathan. Der Alte drückte ihn an seine Brust und versprach mit einer tiefen Bassstimme: „Mein Junge, du kannst dich auf mich verlassen. Ich bin immer für dich da.“ Es war die Abschiedsszene, als sich Jonathan vor vielen Jahren von seinem kleinen Billy-Boy verabschiedet hatte und am nächsten Tag Lake View und New Orleans für immer den Rücken kehrte.

      Als William die Augen wieder öffnete, war Jonathan verschwunden. Im ersten Moment spürte er eine Art Erleichterung. Jon war wortlos gegangen. William schämte sich. Dieser Mann hatte ihm Halt und Orientierung gegeben und sich, solange er denken konnte, um ihn gesorgt. Nun war Jon mit einer Bitte an ihn herangetreten und hatte dafür eine kalte Absage erhalten.

      Selbst wenn das kindliche Idealbild, das er von seinem Vater in sich trug, nur in Bruchteilen der Realität entsprach, Special Agent Vincent LaRouche hätte seinen Kameraden und Freund nicht im Stich gelassen. Niemals!

      William rauchte eine weitere Lucky Strike. Dann zog er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche. Seine Finger flogen über die Tastatur: „Jon, ich nehme den Auftrag an, was immer es auch sein mag. William.“

      Nicht einmal zwei Wochen waren es noch bis zum thailändischen Loy-Krathong-Fest, der stimmungsvollen Verabschiedung der Regensaison, die sich in diesem Jahr ungewöhnlich ergiebig gezeigt hatte.

      Am Nachmittag war wieder ein tropischer Wassersturm über Bangkok hinweggefegt. Wie gewöhnlich brachte dieses Naturspektakel nur eine kurze Abkühlung und Erleichterung. Mit dem einsetzenden Feierabendverkehr lag Thailands Metropole schon bald wieder unter einer dampfenden Dunstglocke aus Industrieemissionen und Verbrennungsprodukten der unzähligen mobilen Giftschleudern, die im Schneckentempo über den aufgeheizten Asphalt schlichen.

      Die aufsteigende Verdunstung der Wassermassen, die das Unwetter ausgespuckt hatte, vermischte sich mit der säuerlich-scharfen Transpiration der sechszehn, vielleicht auch achtzehn Millionen, die Bangkok bevölkerten. Jedes einzelne dieser menschlichen Lebewesen mochte seine persönliche Strategie gegen dieses unerträgliche Gemisch haben, aber keines konnte verhindern, dass die Temperaturen an jedem verfluchten Tag eines Jahres zuverlässig die Dreißiggradmarke überschritten. Für einen Farang, einen weißen Ausländer, fühlte sich dieser Spätnachmittag ungefähr so an, als ob er den Deckel eines mit brodelnder Brühe gefüllten Waschzubers abhob und seinen Kopf in den heißen Wassernebel mit undefinierbaren Geruchsnoten steckte.

      Jürg Bertoli verließ den Waggon des Bangkok-Transit-Systems an der Station Nana. Sofort wurde er vom Strom der dampfenden Leiber aufgesogen, die sich durch das Labyrinth aus Ladenpassagen und über die horizontalen und vertikalen Verbindungswege schoben. Aufgebockt auf turmhohe Betonstelzen, schwebte diese zähflüssige Parallelwelt hoch über dem darunterliegenden Gewirr der Boulevards und Gassen. Jeder schien in diesem Gewusel zu wissen, wohin er wollte, und auch Bertoli beschritt eine Rolltreppe, die ihn hinunter zur Einmündung der siebten Quergasse in den Sukhumvit Boulevard führte. Er bahnte sich den Weg zum Horny House am Ende der Soi Seven, vorbei an Verkaufsständen mit Plastiktand und buntem Kunstfaserfummel, Garküchen, Bierkneipen und den als Massagesalons getarnten Bordellen. Seine rechte Hüfte zwickte unerbittlich, aber die Fahrt mit einem Taxi ins vorabendliche Gewimmel der Gassen rund um Nana Plaza wäre ein zeitlich unkalkulierbares Unterfangen gewesen.

      Als Bertoli das Horny House betrat, stand ihm der Schweiß auf der Stirn und unter den Hemdachseln zeichneten sich dunkelfeuchte Satteltaschen ab. Eine sparsam bekleidete Angestellte entbot mit aneinandergelegten Handflächen einen Wai, den traditionellen thailändischen Gruß. Dann reichte sie ihm ein gekühltes Handtuch und öffnete die Flügeltür zum Bühnensaal.

      Es war das erste Mal, dass ihn Vitikorn in dieses Etablissement


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